Chanit Duaker
Chanit Duaker tat sich schwer damit, für den Fotografen auf die Grenze zuzugehen. Sie hat es dennoch getan
Jonas Opperskalski
Verwundete Seelen
Israelis und Palästinenser sind seit Jahrzehnten im Dauerkonflikt. Viele sind von der ständigen Gewalt traumatisiert. Was hilft?
Foto: Privat
Jonas Opperskalski
28.06.2016

Zum ersten Mal geschah es am 3. November 2015, fast anderthalb Jahre nach dem letzten Gazakrieg. „Ich war abends bei einer Veranstaltung. Plötzlich musste ich weinen, ich konnte kaum noch atmen“, sagt Chanit Duaker, 35. „Ich dachte, ich sterbe.“ Beim zweiten Mal war sie im Kindergarten Wizo, wo sie als Erzieherin arbeitet. Wieder die Atemnot. „Außerdem habe ich am ganzen Körper gezittert. Ich hatte keine Kontrolle mehr.“ In solchen Momenten hat Duaker panische Angst, dass ihr etwas passiert. Sie sieht wieder die Rauchsäulen aus dem angrenzenden Gazagebiet aufsteigen, zertrümmerte ­Häuser, und sie hört den Raketenalarm. Immer wieder der Alarm.

Duaker lebt seit elf Jahren in Sderot, in der Nähe des Gazastreifens – auf der israe­lischen Seite des Dauerkonfliktes. Wenn sie auf den Hügel hinterm Kindergarten steigt, kann sie Gaza sehen. Von dort antworten Hamas-Aktivisten mit Raketen auf israelischen Beschuss. Oder sie provozieren ihn. Drei Kriege hat sie schon erlebt. Aber dass ihre Panikattacken damit zusammenhängen, darauf kam erst ihre Chefin Ziva Korsia: Chanit Duaker ist traumatisiert. All die Kriege, die permanente Angst, haben ihre Seele krank gemacht.

Wie Duaker hat hier jede und jeder Krieg oder Terrorismus selbst erlebt oder ist durch die Erfahrung von Freunden und Familie indirekt betroffen – auf beiden Seiten der Grenze. Allein in Israel leiden rund 750 000 Menschen an ihren seelischen Verletzungen, fast zehn Prozent der israelischen Staatsbürger, haben die Verantwortlichen bei Natal hochgerechnet, einem Traumazentrum für Opfer von Krieg und Terror.

Aber nur wenige trauen sich, die Ursachen dieses Wahnsinns anzusprechen. „Es ist doch unmöglich, Menschen unter Besatzung zu halten und zu glauben, dass sie sich damit abfinden, so weiter zu leben“, sagte der 71-jährige Tel Aviver Bürgermeis­ter Ron Huldai Anfang Juni – einen Tag, nachdem zwei palästinensische Attentäter vier Israelis erschossen hatten. Statt über palästinensische Hassaus­brüche zu jammern, schimpfte er auf dem amtlichen Armeesender, solle man besser mal nach dem Warum fragen. Huldai forderte von seiner Regierung den Mut für ein Friedensabkommen mit den Palästinensern.

"Die Regierung begreift nicht, dass fast zehn Prozent der Bevölkerung traumatisiert sind"

Yotam Dagan ist klinischer Psychologe und bei Natal für die Hilfe auf Gemeindeebene zuständig. „Unsere Überlebensfähigkeit in dieser eher unfreundlichen Nachbarschaft hängt auch mit dem Geist der Menschen zusammen“, sagt Dagan, „und damit, dass wir diese Kon­fliktsituation aushalten können.“ ­Seine Lösung heißt Resilienz. Unempfindlich werden gegen persönliche Katastrophen. Es sind private Organisationen, die in ­ihrer Ratlosigkeit nach solchen Auswegen suchen. „Die Regierung begreift nicht, dass fast zehn Prozent der Bevölkerung traumatisiert sind“, klagt Yotam Dagan. Der Terrorismus werde einen noch lange begleiten.

Das sagen auch sonst viele Israelis – als wären Gewalt und Gegengewalt ein unabänderliches Schicksal. Auch in Europa werde man sich an islamistischen Terror gewöhnen müssen, ist in Israel immer ­wieder zu hören. Und wie soll das gehen? „Bis zu einem gewissen Grad muss man seine ­Sensibilität verlieren“, sagt Dagan. „Man kann nicht dauernd darüber nachdenken, dass etwas passieren könnte.“ Stattdessen will Dagan den seelischen Wider­stand der Bevölkerung stärken.

Eine Methode lautet: vergessen. Wenige Stunden nach einem Anschlag sind meist alle Spuren beseitigt. „Nach ein oder zwei Tagen weiß keiner mehr, dass hier überhaupt etwas passiert ist“, sagt er. „Das ist ein Teil von dem, was die israelische Bevölkerung resilient macht. Wir gehen zur Tagesordnung über.“ Täte man es nicht, ­so Dagan, dann würden die Terroristen in ihrer Logik bestärkt.

In Workshops lernen Lehrer, trauma­tisierte Kinder richtig anzusprechen. Krankenpfleger, Polizisten oder Feuerwehrleute proben den angemessenen Umgang mit Traumatisierten. „Absurd aber wird es, wenn das Bemühen um Resilienz zur Rechtfertigung dafür herhalten muss, nichts mehr gegen die Ursachen von Krisen zu tun“, schreibt Thomas Gebauer, Leiter von Medico International (in dieser Ausgabe auf S. 40). Vielleicht geschieht hier genau das.

Zwei Kriege hatte sie noch irgendwie wegstecken können

Traumata können die Ursache für ­weitere Gewalt sein. Nicht wenige Traumatisierte sind gewalttätiger, aggressiver und risikobereiter als zuvor. In Israel und Palästina verschärft dies die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt.

Die Autorin

###drp|RZX_Tihnqi08p80L8ub3TJdg00148662|i-43||###Maria Caroline Wölfle staunt immer, auf wie engem Raum die Konfliktparteien im Nahen Osten miteinander leben.

„Einer der Gründe, weshalb sich jemand in die Luft sprengt oder aggressiv ist, sind seelische Verletzungen“, sagt Joel Wardi, der bei METIV arbeitet, dem Israe­lischen Zentrum für die Behandlung von Psychotraumata. „Wenn wir die Traumata der Palästinenser stärker anerkennen und auch behandeln würden, würde das die Gewalt im Konflikt verringern.“

Forscher sagen auch: Je häufiger ein Mensch traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt ist, desto anfälliger ist er. Je länger der Konflikt anhält, desto unvermeidlicher sind bleibende seelische Schäden.

Zwei Kriege hatte Chanit Duaker noch irgendwie wegstecken können. Erst nach dem dritten wurde sie krank. Was ihr geholfen hat, ist der Zusammenhalt ihrer ­Gemeinde. Darauf konzentrieren sich die israelischen Traumaexperten. Organisationen wie Natal und die Israel Trauma Coalition (ITC) bilden Menschen in den Gemeinden aus, die Symptome eines Traumas erkennen zu können. Sie erfahren, wie sie mit Traumatisierten umgehen sollten und wo sie professionelle Hilfe finden.

"Traumata können schnell als Schwäche interpretiert werden"

Chanit Duakers Chefin Ziva Korsia hat ein solches Training bei der ITC absolviert. Nur deshalb wusste sie, was mit Duaker los war. „Ich bin geübt darin, die Symptome wahrzunehmen. In Sderot kommt das häufig vor“, sagt Korsia. „Ich glaube, Chanit hat nur darauf gewartet, dass ihr jemand hilft.“

Der Fotograf

###drp|QlVnIcKato9tSNzvgE0q90e_00148663|i-43||###Jonas Opperskalski war zuvor in Gaza bei einer paläs­tinensischen Familie, die viele Kriegstote beklagt.

Die Symptome eines Traumas können bei jedem anders sein. Duaker wollte nur noch weinen und schlafen. Womöglich wäre sie ohne die Gemeinschaft vor Ort in eine Depression gefallen. Der Zusammenhalt unter Israelis scheint gut zu funktionieren. Nur wenige Traumatisierte in Israel werden mit Medikamenten behandelt.

Gleichzeitig tun sich noch immer viele Israelis schwer, über ihre Traumata zu sprechen. „Wir haben hier eine Kämpfergesellschaft“, sagt Joel Wardi von METIV, dem Israelischen Zentrum für die Behandlung von Psychotraumata. „Traumata können schnell als Schwäche interpretiert werden. Und die Menschen hier versuchen, so weit wie möglich von allem entfernt zu sein, was als schwach angesehen werden könnte.“

Die mentale Wunde lässt sich nicht wegtherapieren, sagt Chanit Duaker in Sderot. „Du lernst, damit umzugehen, ­damit zu leben. Aber sie bleibt immer bei dir.“

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