Judith Neumark, 91, im Kibutz Geva. Sie kam im Oktober 1944 nach Palästina.
Foto: Helena Schätzle
Das wortlose Vermächtnis
Verfolgung und Gewalt belasten Opfer ein Leben lang, sagt der Psychoanalytiker Kurt Grünberg
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
22.03.2016

chrismon: Wer die Zeit der Shoah erlebt hat, ist heute mindes­tens 70 Jahre alt. Heilt die Zeit die Wunden?  

Kurt Grünberg: Es wäre schön, wenn man das sagen könnte. Für Menschen, die jahrelang der nationalsozialistischen Judenverfolgung ausgesetzt waren und extreme Traumata erlitten haben, ist das ganz bestimmt nicht der Fall. Im Gegenteil: Manche Wunden brechen sogar erst im Alter auf. Nicht wenige Überlebende, auch jene, welche die Nazizeit als Kinder oder Jugendliche überlebt haben, präsentieren sehr häufig nach außen Normalität, beruflich, familiär, gesellschaftlich. Hier kann es sich aber auch um eine Scheinnormalität handeln. Der tiefere Blick offenbart, dass das Leben nach dem Überleben stark von dem geprägt ist, was Jean Améry das „eingestürzte Weltvertrauen“ genannt hat.

Aber man sieht auf den Fotos von Helena Schätzle viele fröhliche, möglicherweise entspannte alte Menschen. Deckt sich das mit Ihren eigenen Erfahrungen als Psychoanalytiker?  

Sie werden, wenn Sie in unseren Treffpunkt für Shoah-Überlebende kommen, häufig fröhliche Gesichter sehen. Da wird gewitzelt, gelacht und manchmal getanzt. Aber wenn Sie genau hinschauen, können Sie in den Gesichtern oder im Verhalten auch die Abgründe sehen.  

Ist die Zahl der Patienten aus der ersten Generation gestiegen?  

Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht. Man hat sich jahrzehntelang nicht um die Überlebenden ge­kümmert. Da ging es mal um die sogenannte Wiedergutmachung, kein rühmliches Thema in der Bundesrepublik. Gutachter kamen zu der Auffassung, dass die seelischen Probleme der Überlebenden nur endogen bedingt sein könnten, also nicht durch äußere Einflüsse hervorgebracht werden können. Es handelte sich teilweise um Gutachter, die ­bereits in der Zeit des Nationalsozialismus als Ärzte tätig ge­wesen waren. Mitte der sechziger Jahre bekam das Thema der zweiten Generation in der Fachliteratur Bedeutung. Damals tauchten Patienten in den Praxen mit Symptomen auf, die man bei jenen erwarten würde, die selbst Verfolgung erlebt haben. Aber das hatten sie gar nicht, denn sie waren die Kinder der Verfolgten. Und erst mehr als ein Jahrzehnt später begann man sich mit den Child Survivors zu befassen, jenen, die als Kinder und Jugendliche die Shoah überlebt hatten – obwohl ­deren Leben wohl am nachhaltigsten von der Verfolgung geprägt wurde.Eltern geben ihre Verletzungen wortlos an die Kinder weiter.

"Im hohen Alter versuchen viele Überlebende, ihre Krankheitssymptome zu verbergen - wie damals im Lager"

Wie geschieht das? Und warum? Was passiert da?  

Man überschätzte lange die rein sprachliche Vermittlung von Verfolgungserfahrungen der Überlebenden. Man dachte: Wenn die Überlebenden von dem, was sie erlitten hatten, erzählen, dann sei es für deren Kinder nicht so problematisch, damit zu leben. Das stimmt so aber nicht. In Arbeitsgruppen am Sigmund-Freud-­Institut haben wir das Konzept des szenischen Erinnerns der Shoah entwickelt. Hier steht nicht das Erzählen im Mittelpunkt, sondern Verhaltensweisen, die oft wortlos sind, die unbewusst sind. Da geht es um Gestik, Mimik, den Ton in der Stimme, um Tränen und Körperempfindungen. Es geht um plötzliche aggressive Ausbrüche, die Außenstehende oft nicht nachvollziehen können. In Begegnungen mit den anderen, in „Szenen“, brechen Erinnerungen an die Verfolgung auf. Die Kinder der Überlebenden lernen schnell, diese Codes zu übersetzen.

Wo waren denn diese Erinnerungen all die langen Jahre?

Dieses Erinnern gab es immer, wurde aber sehr häufig nicht als solches erkannt und verstanden. Menschen, die extreme Traumatisierungen erlebt haben, halten es nicht aus, ihre Erfahrungen „im Zusammenhang“ zu speichern. Sie spalten das Erlittene in einzelne Elemente auf, wie Mosaiksteine eines Bildes, um weiterleben zu können. Das Unerträgliche zu erinnern bleibt unerträglich, davor muss man sich schützen. Die einzelnen, fragmentierten Elemente werden für sich gespeichert, nicht mehr im Zusammenhang, sondern davon losgelöst.

Verfolgungserlebnisse werden zerlegt und vergraben. Wie geht das konkret? Wie kann man eine horror­artige Erfahrung zerlegen?  

Das Schreien eines Täters, der Anblick eines Uniformierten oder der Blick oder die Geste eines Opfers können einen solchen Teilaspekt darstellen. Sie werden in den Tiefenschichten der Seele wie in Krypten vergraben und eingekapselt. Sieht man im aktuellen Erleben dann diesen Blick wieder, hört einen Schrei, kommen diese Elemente wieder zusammen. Es schließt sich der Kreis. Das löst heftige Panikgefühle und Ängste aus. Kindern der Über­lebenden sind solche Vorgänge sehr vertraut. Ihnen ist meist blitzschnell klar, um was es in diesen Momenten geht.

Außenstehenden bleibt das verschlossen?  

Sie werden sich vielleicht wundern, warum jemand plötzlich schreit oder sie hasserfüllt anschaut oder attackiert. Im hohen Alter kann diese Erfahrung noch brisanter werden. Ein Beispiel: War man im Lager krank, war das wie ein Todesurteil. Kranksein musste man aushalten und tunlichst kaschieren. Man musste einfach funktionieren, um die nächste Selektion zu überstehen. Im hohen Alter versuchen viele Überlebende, abermals ihre Krankheitssymptome zu verbergen. Da passiert es, dass ihr Antrag auf eine Pflegestufe abgelehnt wird, weil sie den Eindruck zu er­wecken versuchen, sie seien gesundheitlich nicht eingeschränkt und könnten noch alles ohne Hilfe tun.

"Ich sehe eine Parallele zu früher"

Können auch Pegida-Demonstrationen dazu führen, dass die sorgsam verschlossenen Traumaerfahrungen wieder aufbrechen?

Grölende Massen lösen meist heftige Reaktionen aus. Primitive Pegida-Parolen mit ihren simplifizierenden Welterklärungen, die bei den einen Hass schüren, der in Gewaltakte umschlagen kann, ruft bei Überlebenden Erinnerungen an  vermeintlich längst vergangene Zeiten wach. Dann bricht ein Gefühl der Bedrohung auf, das zu ­Irritationen führt: Bin ich in der Gegenwart oder dort, wo ich ­früher war? Geht das jetzt wieder los?

Gibt es Ähnlichkeiten, was die Lage der Shoah-Überlebenden und die der Kriegsflüchtlinge heute betrifft?  

Zuerst war alles wie Stein

###drp|ujlNCNJTB9vRW_N1G8M1191k00139105|i-40||###Das große Glück, dass das ­Leben weitergeht: Die Fotografin Helena Schätzle porträtierte für chrismon 04/16 Holocaust-Überlebende.

Mich erschüttert, dass manche Menschen hierzulande die Flüchtlinge gar nicht in ihren schlimmen kollektiven und Einzelschicksalen betrachten, sondern als eine Masse, die unsere Gesellschaft überflute und gefährde. Da sehe ich eine Parallele zu früher. Bestimmte Gruppen müssen als Sündenböcke dafür herhalten, was in der Gesellschaft nicht funktioniert. Obwohl dieses Land zu den reichsten dieser Erde gehört, herrscht massive Ungerechtigkeit; Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben, sehen sich vom Abrutschen aus der Mittelschicht bedroht. Anstatt dafür die wirklichen Ursachen in den Blick zu nehmen, werden Verschwörungstheorien bedient und in populistischer Manier vermeintlich Schuldige anvisiert, um deren Verfolgung anzubahnen. Dann brennen wieder Flüchtlingsheime...

Welche Reaktionen lösen die Flüchtlingsbilder bei den Über­lebenden der Shoah aus?  

Sie lösen bei ihnen vermutlich weniger aus als bei nichtjüdischen Deutschen. Überlebende, die an den Todesmärschen teilgenommen haben, erinnern, dass sie damals keinerlei Schutz und Hilfe hatten. Diejenigen, die zusammenbrachen, wurden gleich erschossen. Für die Überlebenden gab es keine Willkommenskultur. Nur in einer Hinsicht gibt es Ähnlichkeit: Die Fernsehbilder erinnern die Überlebenden daran, dass auch sie – wie die heutigen Flüchtlinge – ihre Heimat und ein sicheres Zuhause verloren haben.  

Manchmal kann es die Bewältigung eines Traumas erleichtern, wenn man dem Leiden einen Sinn gibt. Hat Leiden einen Sinn?  

Es dürfte uns nicht gelingen, der Verfolgung von Millionen von Menschen irgendeinen Sinn zu verleihen. In unserer therapeutischen Arbeit, auch im Treffpunkt, versuchen wir den Über­lebenden nahezubringen, was der österreichische Psychiater ­Viktor Frankl so formuliert hat: „Trotzdem Ja zum Leben sagen.“ Wir versuchen den Überlebenden zu vermitteln: „Es ist gut, dass ihr da seid.“ Damit kann man vielleicht nur wenig, aber doch etwas bewirken. Aber das verleiht der Verfolgung keinerlei Sinn.

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Ohne das, was der Psychoanalytiker Kurt Grünberg über die Opfer der Shoa sagt, im geringsten relativieren zu wollen, sei festgestellt, daß Verfolgung und Gewalt nicht nur diese ein Leben lang belasten, sondern daß all dies dort Gesagte in gleicher Weise auch für die heimatvertriebenen Deutschen gilt.

Mit freundlichen Grüßen

Georg Schwach, Villingen-Schwenningen