Awniyat, ein Dorf oberhalb der syrischen Hafenstadt Latakia: Überall blühen im Frühjahr die Mandelbäume und schimmern im Sommer die Orangen durch die Blätterkronen. 40 Minuten per Vorortbahn oder Auto sind es bis Latakia. Ein idealer Alterssitz, fanden der Ingenieur Spiro Hanna al-Qasi und seine Frau Ramsha Qaroun. Hier kauften sie vor 17 Jahren einen Garten mit Oliven-, Zitronen- und Feigenbäumen und bauten ihr Haus. Acht mal zehn Meter Grundfläche, zwei Schlafzimmer, Küche, Bad – und ein Wohnzimmer mit Balkon und Blick ins Grüne.
Dann kam die Revolution. Im Februar 2011 hatte der syrische Geheimdienst Kinder verhaftet – wegen regierungskritischer Graffitis. Kinder! Im ganzen Land protestierten Bürger. Die Polizei schoss in die Mengen und tötete über hundert friedliche Demonstranten. In Latakia starben sieben. Tausende wurden verhaftet und verschwanden in Foltergefängnissen. Spiro al-Qasi und seine Frau Ramsha werden sich im Frühjahr 2011 ihre Gedanken gemacht haben. Niemand kann so etwas gutheißen. Bürger bewaffneten sich. Teile der Armee desertierten, schlossen sich ihnen an und nannten sich Freie Syrische Armee. Mitte 2012 hatten sie ganze Regionen aus der Kontrolle des Assad-Regimes gelöst, auch das Dorf Awniyat oberhalb von Latakia. Die Rebellen waren über die türkische Grenze eingedrungen, mit ihnen auch radikalislamistische Kämpfer. Vielen Bewohnern wurde es unheimlich, sie wichen nach Latakia aus, wo der Alltag weiterging. Von wo aus man nur in der Ferne die Rauchwolken der Explosionen sah. Auch die al-Qasis ließen ihr Haus zurück. Drei Jahre lag es für sie unerreichbar hinter der Front. Der pensionierte Ingenieur und seine Frau waren nun zwei von sechs Millionen syrischen Binnenflüchtlingen. Menschen, die irgendwo Zuflucht suchen, Apartments anmieten, ihre Ersparnisse aufbrauchen. Das Ehepaar kam zur Miete in Latakia unter.
Ihr Haus war eine Ruine
Ende September 2015 erklärte das russische Parlament, es werde den geschwächten syrischen Diktator Assad militärisch unterstützen. Die russische Luftwaffe bombardierte Awniyat und Umgebung. Im Februar 2016 waren die Rebellen von dort vertrieben. Als die al-Qasis im März erstmals wieder zu ihrem Grundstück kamen, war das Haus eine Ruine. Alles Metall – Leitungen, Rohre, Fenster- und Türrahmen – herausgerissen. Die Zimmer mit Putzresten und Scherben übersät. Ein Ofenrohr ragt aus der Wand, der Ofen ist weg. Eigentlich hätten sie gleich mit dem Aufräumen beginnen können. Aber der Krieg geht weiter. Das Rebellengebiet beginnt zehn Kilometer oberhalb. Im April bombardierte die russische Luftwaffe eine Stadt 30 Kilometer entfernt. Außerdem ist dem Ehepaar al-Qasi das Geld ausgegangen.
Drei Jahre mussten sie teuer zur Miete wohnen. Die Inflation frisst die Rente auf, das syrische Pfund hat nach sieben Jahren Krieg nur noch ein Zehntel seines früheren Wertes. Das Ersparte steckt im verwüsteten Haus in den Bergen. Das Auto mussten sie verkaufen. Die Bahnlinie liegt brach. Zu ihrem Grundstück in Awniyat kommen die al-Qasis nur per Mitfahrgelegenheit. Auf der Schnellstraße nach Idlib steht ein ausgebrannter Bus quer auf der Fahrbahn.
Der Krieg hat gut situierte Syrer wie Spiro al-Qasi und Ramsha Qaroun zu Hilfsbedürftigen gemacht. Je länger er dauert, desto schlechter stehen die Chancen, dass das Paar sein Haus wieder in Besitz nehmen kann. Auf staatliche Unterstützung können sie nicht hoffen, allenfalls auf die ihrer drei erwachsenen Kinder. Aber die müssen erst einmal für sich selbst sorgen. Zu viele Menschen brauchen Unterkünfte, Medikamente und ärztliche Versorgung, müssen Geld verdienen, um sich und ihre Familien über Wasser zu halten.
Die anfängliche Wut über den Clan des Diktators Assad, der Bürger willkürlich verhaften, foltern und verschwinden lässt, ist Kriegsmüdigkeit gewichen. Jetzt geht es ums Überleben. Azza Abdullah, eine Frau Mitte 20 mit einem gelähmten Bein, wohnte mit Geschwistern und Mutter auf einem idyllischen Hanggrundstück in Suqalabiyah, 50 Kilometer nordwestlich der syrischen Großstadt Hama. Zwei Hütten: eine mit zwei Schlafzimmern, die andere mit Küche, Bad und Geräteraum. Dazwischen ein Gärtchen mit Obstbäumen. Ein Stück hangaufwärts steht das verfallene Haus der Großeltern. 2001 starb der Vater. Die Geschwister halten sich und die Mutter mit Gelegenheitsjobs über Wasser.
"Die Heilige Jungfrau hat mein Leben gerettet"
Rebellen hatten vergeblich versucht, Suqalabiyah einzunehmen. Im April 2017 holten die syrische Armee und die russische Luftwaffe zum Gegenschlag aus und ließen – wie in anderen syrischen Städten auch – ein Höllenfeuer auf die umliegenden Rebellengebiete niedergehen. Über 7700 Zivilisten sollen in den vergangenen drei Jahren russischen Bombardements in Syrien zum Opfer gefallen sein, sagt die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, betrieben von einem Sunniten in Coventry, England. Seit Jahren versuchen er und sein Team täglich, alle Vorfälle des syrischen Bürgerkriegs und alle Erschossenen, Verschütteten und Verbrannten zu erfassen. Doch was den Bewohnern im Umland von Suqalabiyah widerfuhr, von deren Häusern nur verrußte Betongerippe übrig blieben, davon hat noch niemand erzählt.
Burkhard Weitz
Christoph Püschner
Die Rebellen aus dem Umland schossen damals zurück. Im September 2017 schlug eine Mörsergranate in Azza Abdullahs Schlafzimmer auf. Sie lag im Bett, der Deckenputz fiel auf sie nieder. Neben sich im Schutt fand sie eine kleine Plastikmadonna, die auf einem Sideboard gestanden hatte. Azza Abdullah ist orthodoxe Christin. "Die Heilige Jungfrau hat mein Leben gerettet", sagt sie.
Eine halbe Million Kriegstote in Syrien zählte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte zwischen 2011 und Ende 2017. Azza Abdullah aus Suqalabiyah hatte Glück im Unglück. Ihre Schwester stand auf der Terrasse vor ihrem Schlafzimmer, ihr Bruder saß nebenan in seinem Zimmer. Beide kamen ihr zu Hilfe. Etwas später am Tag dokumentierte der Bruder die Zerstörung mit seinem Handy. Das Haus mit den beiden Schlafzimmern ist unbewohnbar. Azza Abdullah kam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern bei einer Tante im Ort unter. Das Leben ist für die Familie härter geworden, als es ohnehin schon war. Alle Geschwister sind in den Zwanzigern. Keiner von ihnen denkt daran, eine eigene Familie zu gründen.
Denn ob die Vereinten Nationen einen Frieden vermitteln können, ob das Assad-Regime den Krieg bald für sich entscheiden kann oder ob ausländische Mächte den syrischen Krieg noch Jahrzehnte weiterführen werden – niemand weiß es. In vielen Rebellengebieten führen mittlerweile tschetschenische, usbekische, saudische, tunesische und andere internationale Terroristen das Kommando. Das Assad-Regime lässt Russen, Iraner und Afghanen für sich kämpfen. Die türkische Armee rückt im Norden des Landes gegen Kurden vor. US-amerikanische Soldaten bekämpfen die letzten Reste der Terrorgruppe "Islamischer Staat" im Osten und beschießen syrische Chemiefabriken. Iraner bauen Raketenstellungen im Süden aus. Die Israelis wollen das verhindern. Wer weiß, welche neue Fronten in den kommenden Jahren noch dazukommen.
Dennoch fangen Syrer an, sich in den Resten ihrer Häuser wieder einzurichten. Die Innenstadt von Homs ist eine Ruinenlandschaft. In vielen Straßen sind die Fassaden der Geschäftsstraßen zerstört, metallene Ladengitter verbogen, verbliebene Balkons brüchig, Fensterrahmen herausgebrochen. Eine graue Trümmerwüste. Hiyam Dagher ist aus ihrer Flüchtlingsunterkunft angereist. Sie ist mit ihren Söhnen, den 16-jährigen Zwillingen Malik und Masjid, eine Viertelstunde entfernt auf dem Land untergekommen. Drei ältere Töchter studieren in vom Krieg verschonten Städten im Westen Syriens. Hiyam Dagher führt durch das, was einmal ihre Wohnung war. Sie und ihr Mann hatten sie vor über 25 Jahren gekauft. Hier zogen sie alle fünf Kinder groß.
Rebellen haben die Mauer durchbrochen, um von Haus zu Haus zu kommen
Die Stadt Homs war 2011 eine Hochburg des Protestes gegen das Assad-Regime. Schon zu Beginn des Aufstandes sei ihr Mann in seinem Sanitärgeschäft ermordet worden, sagt Hiyam Dagher. Sie habe die Stadt mit den Kindern verlassen. Auch ihr Schwager sei entführt worden. Noch immer weiß sie nicht, was aus ihm geworden ist. Islamistische Farouq-Milizen würden christliche Einwohner tyrannisieren, klagten damals die Kirchen. Die Rebellen sagten, das sei Propaganda. Zwei Jahre lang beschossen syrische Luftwaffe und Artillerie die Innenstadt. Als die Rebellen sich im Mai 2014 zurückzogen, waren die Wohnungen nur noch Geröllhalden, auch die von Hiyam Dagher. Vom Esszimmer aus geht ein Balkon auf einen Hinterhausschacht. Die Mauerdurchbrüche dort hatten Rebellen hineingeschlagen, um unbemerkt von Haus zu Haus zu gelangen.
Sicher vor dem Krieg ist die Familie noch lange nicht. Mitte April bombardierte die russische Luftwaffe einen Nachbarort nördlich von Homs heftig. Und US-amerikanische Raketen legten ein Forschungszentrum am Stadtrand in Schutt und Asche. Trotzdem beginnen Handwerker, Wohnungen zu renovieren. Auch bei Hiyam Dagher werden Rohre und Stromleitungen verlegt, Wände hochgezogen und verputzt. Die Familie will wieder einziehen, auch wenn es noch Jahre dauern kann, bis Nachbarn heimkehren und Geschäfte die Straße neu beleben. Aber die Wohnung gehört ihr, hier zahlt Hiyam Dagher keine Miete. Und irgendjemand muss ja anfangen.
Eine syrische Partnerorganisation der Diakonie Katastrophenhilfe versorgt Menschen in syrischen Kriegszonen im Winter mit Decken und warmer Kleidung. Sie repariert zerstörte Wohnungen und bildet Frauen aus, damit sie Geld verdienen können. GOPA-DERD steht für "Griechisch-Orthodoxes Patriarchat von Antiochien" und "Abteilung für Ökumenische Beziehungen und Entwicklung" (auf Englisch).
Spenden:
Diakonie Katastrophenhilfe, Berlin
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Stichwort: Nothilfe Syrien
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Ursachenforschung
Die Sehnsucht nach Frieden steigt mit der Dauer von Kriegen und Zerstörungen, und sie kann nur dann in Erfüllung gehen, wenn sich alle Beteiligten auf eine gemeinsame Basis unseres Menschseins besinnen. Nicht Sieger im Kampf um Vorherrschaften zu ermitteln, ist das Ziel, sondern die Einsicht, dass sich einzelne Gruppen nicht gegenseitig diskriminieren dürfen, wenn etwas Beständiges und Nützliches für alle dabei herauskommen soll. Zur Ursachenforschung von Konflikten gehört auch, herauszufinden, wo, wann, wie und warum vom Gemeinsamen abgewichen wurde. Dann kann man es in Zukunft besser machen.
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