Libellen surren über dem Wasser. Liebevoll geschmückt schmiegen sich die Siedlerhäuser ans Ufer des kleinen Teichs im Dorfzentrum. Möwen krächzen. Nur vier Kilometer sind es von Visquard in Ostfriesland bis zum Deich.
Für Touristen lohnt sich der Abstecher in die Idylle. Für Jugendliche bietet das Dorf außer dem Sportverein und der freiwilligen Feuerwehr wenig Abwechslung. Für die 20 Kilometer nach Emden in die Disco braucht der Bus eine Dreiviertelstunde. Und was die adretten Häuschen und die gepflegten Vorgärten nicht erahnen lassen: Nahezu jedes siebte Kind im Landkreis Aurich wächst mit Armutsrisiko auf. Vor allem die Jüngeren und die nicht so ins Dorfleben Integrierten haben es schwer.
Uwe Birnstein
Kolja Warnecke
Es wird hier nicht gerne über das Problem gesprochen. "Verleugnet und verdrängt: die Armut in Ostfriesland" titelte die "Emder Zeitung" im Herbst 2009 und berichtete, dass der äußerste Nordwesten "zu den ärmsten Regionen Deutschlands" gehört. Um das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, hatte sich die "Armutskonferenz Ostfriesland" gegründet.
Die Arche brachte den Aufbruch
Auf der anderen Seite des Dorfweihers ragt die reformierte Backsteinkirche wie eine feste Burg in den Himmel. Hier zerbrachen sich damals, vor zehn Jahren, Pastorin Heike Schmid und ihr Kirchenrat den Kopf über ihre evangelisch-reformierte Kirchengemeinde Visquard. Es kamen kaum noch Kinder in den Kindergottesdienst, und wenig Jugendliche interessierten sich für die Jugendarbeit der Gemeinde. "Nichts funktionierte", sagt die Pastorin. Auch zu den Gemeindegottesdiensten in Visquard und dem Nachbardorf Groothusen kamen immer weniger Besucher. "Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist", dieser Satz Dietrich Bonhoeffers geisterte durch Heike Schmids Kopf. Aber wie kann die Kirche für andere da sein?
Heike Schmid sah im Fernsehen eine Reportage über die "Arche", ein Kinderhilfsprojekt. In Berlin-Hellersdorf bietet Pfarrer Bernd Siggelkow Kindern aus mittellosen Familien Nachmittagsbetreuung an: Hausaufgaben, eine sinnvolle Freizeitgestaltung, Hilfe bei Konflikten. Heike Schmid war angetan, ihre Mitstreiter in der Kirchengemeinde waren es auch. Eine Arche gründen in Visquard! Viele könnten mitmachen, auch außerhalb der Kirchengemeinde: die Kommune, die Kreisvolkshochschule, die Grundschule.
Der Armutsfonds der evangelisch-reformierten Landeskirche übernahm die Sachkosten. Nur: Von "armen" Kindern durfte nicht die Rede sein. Arme in Ostfriesland, das wäre ja – unerhört! Ein Logo wurde entwickelt.
Noch ein zweiter Lichtblick tat sich auf: Der Ingenieur Wolfgang Hildebrandt war damals gerade Rentner geworden und fand die Visquarder Gemeinde sympathisch. Als Student war er beim CVJM und bei der Studentenmission aktiv. Nun organisiert er mit Heike Schmid zusammen die Arche und begeistert viele weitere Ehrenamtliche, die Woche für Woche Zeit und Ideen, Kraft und pädagogisches Know-how einbringen. Firmen spenden Geld für Spielsachen, Fortbildungen und Ausflüge. Ein typisch reformiertes Gemeinwesen eben.
Bescheiden und hilfsbereit
Pastorin Heike Schmid wurde in eine Familie hineingeboren, die seit vielen Generationen reformiert ist. "Reformed by nature", sagt sie. Sie wurde in Nordhorn im reformierten Glauben groß. Nordhorn, das liegt in der Grafschaft Bentheim direkt an der holländischen Grenze. Weiter südlich beginnt das katholische Münsterland. Nach Norden erstreckt sich das platte Land entlang der niederländischen Grenze über das Emsland bis nach Ostfriesland. Es ist das Kernland der Reformierten in Deutschland.
Reformiert zu sein, sagt Heike Schmid, das sei eine Lebensweise, "eine Mischung aus Klarheit, Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft anderen gegenüber, ehrbarem Lebenswandel und ja keine Schulden machen."
Dankbarkeit, das ist das Stichwort, das Heike Schmid mit der Bekenntnisschrift der Reformierten verbindet, dem Heidelberger Katechismus: "Wer begriffen hat, was Gott in Christus für uns getan hat – der oder die wird Früchte des Glaubens aus Dankbarkeit herausbringen." Das mag ein Grund sein, weshalb sich hier in Ostfriesland die Kirche und die vielen Menschen und Unternehmer in der Verantwortung sehen zu helfen, wo es nötig ist.
Als im 16. Jahrhundert die Reformation in diese Region zwischen Nordhorn und Nordsee kam, wurden Bilder und Altäre aus den Kirchen gerissen, den alten Kirchen sieht man es noch heute an. Die Nottaufe wurde abgeschafft und das Abendmahl an Tischen ausgeteilt, statt Oblaten gab’s Weißbrot. Die Stadt Emden profitierte früh wirtschaftlich vom Zuzug von reformierten Glaubensflüchtlingen aus den Niederlanden. Wer das erforschen will, geht am besten in die "Johannes a Lasco Bibliothek" in Emden, die im Namen an den Reformator Ostfrieslands erinnert. Hier findet sich auch eine Schrift, die der Genfer Reformator Johannes Calvin 1545 den evangelischen Nordlichtern widmete, den "treuen Dienern Christi, welche in Ostfriesland die reine Lehre des Evangeliums verkündigen".
Ein Herz wie ein Scheunentor
Heike Schmid kennt ihn noch, diesen alten, urwüchsigen reformierten Glauben. Sie wurde "in einem ganz natürlichen Mehrgenerationenhaus" in Nordhorn groß. Ihre Uroma habe "ein Herz wie ein Scheunentor" gehabt. "Jeden Sonntag ging sie zur Kirche." Ihr Uropa, das schwarze Schaf der Familie, war in der Gewerkschaft und blieb sonntags zu Hause.
Es gab enge Verbindungen zu "ätzend freudlosen alten Männern" in Holland, sagt Heike Schmid. "Zu Männern, die immer schwarze Anzüge mit Westen trugen, immer so sonderbar hohe, geschnürte schwarze Schuhe. Die nie lachten und viel Bibel lasen. Die endlose Predigten hörten und darüber diskutierten. Aber sie schafften es, trotz ihrer strengen Frömmigkeit, lieblose Ehemänner oder Väter zu sein." Statt Hingabe forderten sie Unterwerfung.
Gut vernetzt im Ort
Ähnlich besingt auch der Liedermacher Heinz Rudolf Kunze eine Moorsiedlung in der Grafschaft Bentheim, die "Alte Piccardie": "Die Kirche im Nachbardorf schmucklos und schlicht / und das Wort des Pastoren hatte Wucht und Gewicht. / Der Glaube war streng orthodox reformiert / und selten ist irgendwas Schlimmes passiert." Diese Zeiten sind vorbei. Heute muss man genauer hinsehen, wenn man etwas typisch Reformiertes sucht.
Vom Mitgliederschwund sind auch die ostfriesischen reformierten Gemeinden nicht ausgenommen. Daher müssen sie sich mehr um die bemühen, die der Gemeinde fernstehen. Zeigen, dass die Gemeinde ihnen nahesteht. Eine Kirchengemeinde sponsert den Fußballverein mit Werbung an der Bande des Dorfbolzplatzes: "Bei uns ist jeden Sonntag Heimspiel!" Andere Kirchengemeinden organisieren gemeinsame Feste und Wettbewerbe mit den freiwilligen Feuerwehren. Wieder andere öffnen ihre Gemeindehäuser für weltliche Chorvereine und versuchen, sie mit dem eigenen Kirchenchor zusammenzubringen.
Die Visquarder gehen mit der Arche etwas weiter und besinnen sich auf alte reformierte Tugenden. Zum Beispiel auf das Ideal einer Gemeinde mit flachen Hierarchien. Es gehe nicht darum, "für andere" etwas zu tun, sondern "mit anderen". Davon ist die Theologin Heike Schmid überzeugt. "Menschen möchten heute nicht mehr ‚versorgt‘ werden, sondern sie möchten Möglichkeiten haben, sich am Leben sinnvoll zu beteiligen und mit ihren Fähigkeiten einzubringen." Sie will Mut machen, herkömmliche Rituale und Gewohnheiten aufzugeben, denn die "stehen in der Gefahr, zum Selbstzweck zu werden. Dann wird die Asche gepflegt, anstatt das Feuer zu schüren."
Zehn Jahre ein wöchentliches Angebot durchzuhalten, das erfordert viel Kraft und vor allem Ehrenamtliche, die sich zuständig fühlen: Jemand muss mit den Kindern lesen, mit ihnen backen und kochen, Gelände- und Gruppenspiele organisieren. Auf Ausflügen lernen die Kinder das Leben auch außerhalb des Dorfes kennen. Sie besuchen Bauernhöfe in der Umgebung, erfahren, wo die Milch herkommt und das Getreide für das Brot. Einige Kinder staunen, so etwas bekommen sie sonst nicht zu sehen.
Viele Ehrenamtliche
Fragt man die in der Arche engagierten Frauen, hört man, dass alle eine ganz eigene Motivation antreibt: zum Beispiel Karin Stroman. Sie ist 51 Jahre alt, Gärtnerin und Ehrenamtliche der ersten Stunde. Ihr liegt am Herzen, dass die Kirchengemeinde den Kindern vormacht, wie gute Gemeinschaft funktioniert – und nicht nur davon erzählt. "Vorleben ist besser, als nur Bibelsprüche zu zitieren", sagt sie. Sie versucht, die fünf- bis elfjährigen Kinder so zusammenzubringen, dass sich auch diejenigen unter ihnen wohl- und angenommen fühlen, die zunächst als Außenseiter dazukommen.
Hedda Oldewurtel, 58, Krankenschwester, hat die Arche ebenfalls mitgegründet. Es ärgert sie, dass manche Dorfbewohner schlecht über einige Kinder reden. "Kinder haben viele Gaben, das soll das Dorf sehen!", wünscht sie sich. Die Kinder sollen in der Arche einen Umgang lernen, den sie zu Hause vielleicht nicht gewohnt sind.
Und dann ist da Sina Dirksen. Sie war eines der ersten Kinder, die regelmäßig in die Arche kamen. Mittlerweile ist sie 21 Jahre alt und Altenpflegerin. Gerade ist sie zurückgekommen nach Visquard und möchte jetzt die Arche-Kinder ehrenamtlich betreuen, zurückgeben, was ihr selbst Gutes getan wurde.
Eine Gemeine mit geteilter Verantwortung, so hatte sich das der Schweizer Reformator Johannes Calvin vor 500 Jahren auch vorgestellt. Er hatte die Gemeindeleitung gleichwertig auf vier unterschiedliche Personenkreise verteilt. Neben den Pastoren sollten auch die Lehrer, die Presbyter (oder Kirchenvorsteher) und Diakone Verantwortung übernehmen.
Keiner soll über andere herrschen
"Keine Gemeinde darf über eine andere, kein Gemeindeglied über ein anderes Vorrang oder Herrschaft beanspruchen", heißt es in der Verfassung der evangelisch-reformierten Landeskirche. Gegen Zentralismus oder Kirchenhierarchie, wie sie in lutherischen Kirchen vorkommen, sind die Reformierten gefeit. Bischöfe sind ihnen fremd, sie wählen "Kirchenpräsidenten". Ihr Kirchenamt in Leer ist lediglich ein zweckmäßiger Verwaltungsbau ohne jeden Prunk.
Die Reformierten verstehen sich als Bürgergemeinde, als Teil des politischen Gefüges, nicht als etwas Sakrales, Entrücktes, Entgegengesetztes. Die Sonntagsgottesdienste sollten wieder ein Treffpunkt für die Menschen sein, sagt Heike Schmid. "Wie attraktiv ein Gottesdienst für die Leute ist, hängt nicht von den steigenden ästhetischen Ansprüchen ab, sondern davon, wie sehr sich die Leute beteiligen können."
Bunt gemischt
Da passt es ins Bild, dass die Kommune bei dem Projekt Arche kooperiert. "Ein guter Weg, den die Kirche da eingeschlagen hat", sagt Ortsvorsteher Tinus Baumann. Er wurde in der Visquarder Kirche getauft und konfirmiert und tauscht sich viel mit Heike Schmid aus. Er kennt die Prognosen zur Mitgliederentwicklung in der evangelischen Kirche: eine Halbierung der Mitgliederzahl bis 2060. "Projekte wie die Arche machen da Hoffnung, dass es nicht so weit kommt. Die Kirche muss sich öffnen!"
Am 1. Juni, am Samstagvormittag, läuten die Glocken. Die Kirche füllt sich, Kinder rennen durch die Bankreihen, viele junge Eltern sind da, Jugendliche, natürlich auch ältere Menschen – ein Festgottesdienst zu zehn Jahren "Visquarder Arche". Heike Schmid sitzt – ohne Talar – unter der Kanzel. Ehrenamtliche erzählen, Konfirmanden führen ein Stück über die Arche Noah auf. Es wird gelacht. Und "Kumbaya, my Lord" gesungen, auf Plattdüütsch natürlich: "Laat di seh’n, o Gott". Darum müsste Gott aber inmitten des Gewusels eigentlich gar nicht mehr gebeten werden.
Hintergrund: Die reformierten Kirchen
Die evangelisch-reformierten Christen gehen in ihrem Selbstverständnis auf die Schweizer Reformatoren Ulrich Zwingli (1484–1531) und Johannes Calvin (1509–1564) zurück. Reformierte Kirchen haben den Ruf, "schlicht" zu sein. Die Innenausstattung ist oft zurückgenommener als in anderen Kirchen, es gibt keine liturgischen Gesänge. Im Zentrum steht die Predigt.
Die reformierte Kirche ist konsequent von unten nach oben aufgebaut. Die Synode ist das höchste beschlussfassende Organ. Der Kirchenpräsident oder die Kirchenpräsidentin vertritt die Kirche nach außen.
Weltweit gehören 100 Millionen Christen in 105 Ländern der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen an. In Deutschland sind etwa 1,5 Millionen der rund 22 Millionen Protestanten evangelisch-reformiert. 173 500 von ihnen sind Mitglieder in der "Evangelisch-reformierten Kirche", die sich über das Bundesgebiet erstreckt mit Schwerpunkten in Ostfriesland und der Grafschaft Bentheim.
Diese Evangelisch-reformierte Kirche ist eine von 20 Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die anderen reformierten Christen gehören Landeskirchen an, in denen es sowohl reformierte als auch lutherische Gemeinden gibt (wie etwa in der Lippischen Landeskirche) oder Gemeinden, die eine Mischung aus beiden Traditionen leben (so genannte unierte Landeskirchen wie zum Beispiel die Rheinische Landeskirche).