- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Ist der Mann tot? Ein scheinbar klarer Fall: Erstochen auf der Cocktail-Party, das Blut sickert durchs karierte Sakko, dem Jenseits zugewandt liegt der Leichnam auf dem weichen Wohnzimmerteppich. Ein Tatort-Fotograf hält die Details des Verbrechens mit der Kamera fest. Seitdem der Krimi als Genre praktisch sämtliche Unterhaltungsmedien im Würgegriff hat, ist man versucht, auch jedes zweideutige Kunstwerk mit den Augen eines morderprobten Kriminalkommissars zu analysieren. Doch was, wenn der erste Blick trügt? Wenn die Leiche plötzlich aufsteht – weil sie gar nicht tot war, sondern nur geschlafen hat?
Lukas Meyer-Blankenburg
Der Fall ist schnell gelöst: Der Südafrikaner David Goldblatt war kein Tatort-Fotograf, sondern ein detailverliebter Meister der Kamera, der mit dokumentarischer Beharrlichkeit das Elend der Apartheid in seiner Heimat festhielt. Sein "Man Sleeping" von 1975, sein schlafender Mann, ist Teil der "Particulars", einer Serie von Bildern, die sich auf Ausschnitte und Details konzentriert.
Liebe und Sinn dafür entwickelte Goldblatt als Junge im Textilgeschäft seines Vaters. Er entdeckte das große Ganze in den kleinen Formen, in einzelnen Körperteilen und ihren Verhältnissen zueinander. Herren-Ausstatter wurde der Sohn litauischer Juden aber nicht - zum großen Glück für die Kunstwelt. Goldblatt verkaufte den Laden des Vaters und finanzierte sich damit den Start in eine unermüdliche Fotografen-Karriere.
Verlassenheit und Erschöpfung
Seine Bilder sind bedrückende Zeugnisse und das, obwohl sie wie auch hier zunächst unscheinbar wirken. Selbst in den schlimmsten Zeiten der Apartheid fotografierte Goldblatt keine Gewaltorgien oder Massenproteste. Er blieb beim Alltag der Menschen. Gewalt, Armut, Unterdrückung – all das ist darin auch zu sehen, aber viel subtiler. Es zeichnet sich ab in dem schüchternen Lächeln des schwarzen Hausmädchens, dem der weiße Junge die Hand auf die Schulter legt. Und an den blonden Schönheitsköniginnen, die im Badeanzug vor schwarzem Publikum paradieren. Goldblatt interessierten nach eigener Aussage die Bedingungen, die zu den Ereignissen führen, die dann wiederum in den weltweiten Nachrichten landen.
Von diesen Bedingungen erzählt auch der schlafende Mann hier. Er hält kein entspanntes Nickerchen. Er ist einer jener namenlosen Arbeiter, die jeden Tag per Bus aus den Armenvierteln zur Arbeit in die Stadt gekarrt wurden. Vier Stunden hin, vier Stunden zurück, dazwischen Plackerei für einen Hungerlohn und, mit Glück, ein paar Minuten todesähnlicher Schlaf im Joubertn Park, Johannesburg. Das Bild zeugt von einer eigentümlichen Verlassenheit und Erschöpfung, eine unselige Mischung aus Hiob und Sisyphos. Vielleicht ist die Parallele zum Tod also doch nicht ganz verkehrt. Der Schlafende selbst scheint sich aus seinem Leben flüchten zu wollen.
Farbe war ihm zu süßlich
Goldblatt fotografierte zumeist in Schwarz-Weiß. Farbe war ihm zu süßlich für den Inhalt seiner Werke. Vor knapp einem Jahr, im Juni 2018, starb der Künstler 87jährig in Johannesburg. Persönlich und in seiner Arbeit blieb er stets mit seiner südafrikanischen Heimat verbunden. Und doch sind seine Bilder Parabeln auf das Mensch-Sein. Der gesichtlose Schlafende ist ein Jedermann. Kann man sich nicht leicht einfühlen in Erschöpfung und Elend dieses Menschen? Oder wird die Hautfarbe doch zum Thema, der weiße Betrachter zum Täter? Beim Blick aufs Detail öffnen sich Abgründe. Eine Erkenntnis, die Goldblatt gnadenlos vor Augen führt. Im Vergleich dazu sind die Krimis mit Cocktail-Leiche harmlos.