Titelthema - Papa weint
Ja, es war schlimm, dass können die Haucks jetzt sagen. Gemeinsam haben Sie die Depression des Vaters besiegt
Anne-Sophie Stolz
Jetzt ein cooler Vater
Eine Siedlung in Schwäbisch Hall, zwischen sanft ansteigenden Äckern und bunten Futterwiesen. Hier wohnt Familie Hauck mit drei Katzen in einem schönen Haus mit Garten. Ein Idyll, könnte man meinen. Doch Uwe Hauck hat versucht, sich umzubringen. Wie kam es dazu? Und was hat das mit seiner Familie gemacht? Protokoll einer Überwindung.
08.11.2018

Uwe Hauck, 51

Es passierte an einem ganz normalen Arbeitstag. Dreieinhalb Jahre ist das her. Gegen elf Uhr rannte ich aus meinem Büro auf die Straße. Ich ­hatte nur noch einen Gedanken: Schluss mit allem. Am Morgen hatte ich einen Brief von meinem Chef bekommen, den ich wie eine Abmahnung empfand. Jahrelang hatte ich schon mit dem Gefühl gekämpft, nichts wert zu sein, niemals genug zu leisten. Dabei hatte ich einen guten Job als Infor­matiker bei einer Versicherung. Aber mit Kritik konnte ich noch nie gut umgehen.

Der Brief versetzte mich in Panik. Ich zitterte, meine Arme brannten, meine Gedanken kreisten: Ich werde entlassen, verdiene kein Geld mehr, wir verlieren das Haus, meine Familie verarmt. Diesen Gedankenstrudel kannte ich schon. Diesmal riss er mich in einen Abgrund. Ich wollte nicht sterben, aber ich wollte dieses Leben beenden, das so schmerzt. Ich wollte, dass die brennende Angst aufhört. Es war so, als würde ich in einem Auto gegen eine Wand rasen. Ich wusste, ich würde zerschellen. Der einzige Ausweg war, aus dem fahrenden Wagen zu springen.

In solchen Situationen handelt man völlig kopflos. Ich rannte durch die Stadt bis zur Kirche und wollte den Kirchturm hoch. Aber ich fand den Eingang nicht. Also lief ich wieder zurück zur Firma, wo es auch einen Turm gibt. Da bin ich hoch. Aber es gibt einen Alarm, wenn man da rausgeht. Und ich dachte, bevor ich mich traue, dort runterzuspringen, sind die Kollegen schon da. Ich bin dann wieder raus, habe mir Rasierklingen und Schlaftabletten gekauft und bin ­wieder den Turm in der Firma hoch. Nach und nach warf ich die Schlaftabletten ein und fing an, mir die ­Pulsader am rechten Arm aufzuschneiden. Doch da wurde mir klar: Ich kann doch nicht gehen, ­ohne mich von meiner Frau zu verabschieden. Da schrieb ich ihr per Whatsapp. Dass ich nicht mehr kann, dass es mir leid tut. Sibylle wollte wissen, wo ich bin. Aber die Tabletten zeigten schon ­Wirkung. Ich sackte weg und konnte gerade noch schreiben: in der Firma.

Sibylle Hauck, 47

Ich hatte schon den ganzen Morgen ein komisches Gefühl. Seit Wochen war Uwes Zustand immer schlimmer geworden. Er war mehrmals umgekippt, war erschöpft und zugleich unruhig, dann musste er aus dem Haus raus, nur laufen, und ich habe ihn irgendwo eingesammelt, weil er es nicht mehr allein zurückschaffte. 2010 hatten die Ärzte schon einmal einen Burn-out bei ihm diagnostiziert. Er hat dann Antidepressiva bekommen, war sechs Wochen krankgeschrieben und hat sich so gut erholt, dass er die Medikamente schnell wieder abgesetzt hat, zu schnell, wie wir später erfuhren. Aber zu der Zeit hat ja keiner an eine Krankheit gedacht. Im Nachhinein kann ich das selbst nicht verstehen. Man will es nicht wahrhaben, diesen Gedanken: Mein Mann ist krank. Man will nicht das Schlimmste sehen.

Dabei war seine Depression schon viele Jahre zu spüren. Heute weiß ich das. Damals dachte ich, dass ich irgend­etwas falsch mache und er deshalb so angespannt ist. Nie konnte man es ihm recht machen, und wenn es ein Problem mit den Kindern gab, wenn sie schlechte Noten hatten, oder wir uns am Küchentisch stritten, ging er gleich in die Luft. Aber er sagte nie, dass er ein Problem hat und manchmal völlig verzweifelt ist. Für mich sah das so aus: Oh Gott, ich schaffe es nicht, eine Familie zu organisieren, das war ja eher mein Part, der häusliche und alles drum herum.

Irgendwann war es so, dass wir ihm alle aus dem Weg gingen. Die ­Familie ging schon in Deckung, wenn er aus dem Büro kam. Er ist ja recht groß, und wenn ich von drinnen ­seinen Fahrradhelm über der Gartenhecke sah, wusste ich, gleich ist er da. Dann rief ich: Kinners, Vater kommt. Und schwupp, waren sie weg in ihren Zimmern. Wir haben, glaube ich, viele Jahre nebeneinanderher gelebt.

"Wenn ich die Angst bremsen kann, kommt auch Depression nicht. Beides hängt zusammen"

Uwe Hauck

Depressive sind Meister im Verstecken und Rationalisieren. Damit habe ich mich und andere lange getäuscht. Man will ja, dass es perfekt läuft, im Job und zu Hause. Und kann sich nicht eingestehen, überfordert zu sein. Da war immer die Diskrepanz: Ich kann nicht mehr, aber ich will doch auch zu Hause alles richtig machen, da sein für die anderen. Stattdessen wurde mir schnell alles zu viel. Ich erledigte meine Aufgaben und zog mich dann in mein Zimmer zurück. Zu Hause ging das, aber nicht im Büro. Jede ­Kritik löste bei mir eine Angstspirale aus. Doch das konnte ich mir nicht eingestehen. Dann wäre die Angst ja noch stärker geworden. Also setzte ich die Maske auf: Ich habe alles im Griff. Solange ich alles plane und organisiere, kann der Familie nichts geschehen.

Sibylle Hauck

Lange dachte ich, das wird schon wieder. Uwe hat ja auch andere Seiten. Er kann charmant und offen sein. Und wir haben zwischendurch immer viel gelacht. An diesen Momenten hält man sich fest und sagt sich: Geht doch, ist alles okay. Doch es wurde nicht besser. Alles musste er kontrollieren. Mal nichts tun und sich treiben lassen? Unmöglich. Selbst die Urlaube waren Stress. Wir sind nach Salzburg gefahren und im Sprint durch die Stadt gehetzt. Bloß nicht trödeln. Es gab ein Programm zu erfüllen und abzuhaken. Als er dann öfter zusammenbrach, war klar, es muss etwas passieren. Ich habe ihn zum Arzt geschleppt, und wir haben einen Therapieplatz in einer Tages­klinik be­kommen. Drei Wochen später sollte er da hin. Das hat mich erst mal beruhigt.

Doch in den Tagen vor dem Suizidversuch sagte er oft: Das macht alles keinen Sinn mehr. Es wäre besser für euch, wenn ich nicht mehr da wäre. Ich war alarmiert, ich spürte, dass er sich etwas antun könnte. Als dann seine Nachricht per Whatsapp kam, war ich im Grunde nicht überrascht und sofort in seiner Firma. Dort fand ihn eine Kollegin. Er lebte, aber er war bewusstlos, und es war nicht klar, ob sein Gehirn durch die Tabletten geschädigt war. Der Rettungswagen kam. Und dann bin ich zu­sammengeklappt. Uwes Chef brachte mich in die Schule, um die beiden ­jüngeren Kinder abzuholen. Ich wusste ja nicht, wie es weitergeht, und ich wollte, dass die Familie zusammen ist.

Katja, 16

Mein kleiner Bruder und ich wurden mitten aus dem Unterricht geholt. ­Euer Vater ist umgekippt, sagte meine Mutter. Das konnte nicht stimmen. Das war schon öfter passiert, und da wird man nicht aus der Schule geholt. Dann saß eine andere Person hinterm Lenker, alles sehr merkwürdig. Der erste Gedanke war, dass man selbst etwas angestellt hat. Oder mein Bruder. Klar habe ich schon länger gemerkt, dass mein Vater anders war als andere Väter. Wenn er nach Hause kam, war er immer gleich genervt. Und wenn man mit ihm geredet hat, hat er nicht richtig zugehört. So war er halt. Für mich war das eine ganz normale Familie, nur ein bisschen anders als alle. Ich bin auch nicht so ein typisches Mädchen. Ich schminke mich nicht, ich gehe nicht gern shoppen.
Mein Vater kam dann in eine psychiatrische Klinik. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt. Wenn man was drüber hört, klingt das immer so schrecklich, große Häuser, alles steril. Aber es war schön dort, viel Wiese, ein Park, eher wie in einem Hotel. Oder als wäre man auf Klassenfahrt.

"Seine Depression war viele Jahre zu spüren. Heute weiß ich das"

Uwe Hauck

Erst nach dem Suizidversuch habe ich begriffen, dass ich krank bin. Schwere Depression und Angststörung lautet die Diagnose. Wobei die Angststörung erst später erkannt wurde und ich dann erst die richtigen Medikamente bekam. In der Klinik ging es mir anfangs schlecht. Ich hatte Angst um meine Kinder, dass sie nicht verkraften würden, was ich angerichtet hatte. Dass meine Frau mich verlässt. Und gleichzeitig dachte ich: Mist, das habe ich auch wieder vermasselt. Aber die Therapien, die Medikamente und vor allem die Gespräche mit den anderen Patienten haben mir sehr geholfen. Ich musste mich vor denen nicht rechtfertigen, keine Maske tragen. Ich habe keine Rolle mehr gespielt.

Jan, 18

Als mein Vater nach zwei Monaten aus der Klinik kam, hat er uns direkt gesagt, dass er einen Selbstmord versucht hat. Wir Geschwister standen alle drei im Wohnzimmer. Er wollte nicht, dass wir es von anderen er­fahren. Er hat es klar ausgesprochen, ohne es zu beschönigen. Er hat gesagt, wie er es gemacht hat und wie er sich gefühlt hat. Dass er keinen Ausweg mehr gesehen hat. Und dass wir ihn jetzt alles fragen könnten. Ich war nicht schockiert. Endlich war klar, was mit ihm los war. Keiner von uns wusste vorher, was eine Depres­sion ist. Ich habe dann viel darüber ge­lesen. Man kann nicht einfach sagen: Reiß dich mal zusammen! Zu jemandem, der einen Beinbruch hat, sagt man das ja auch nicht. Und wenn man helfen will, kann man nicht ­einfach hingehen und ­sagen: Wird schon wieder. Man kann nur zeigen, dass man den anderen ­immer noch liebhat. Aber man darf auch nicht übernett reagieren, sonst sieht das so aus, als würde man etwas vorspielen und den Depressiven nicht ernst nehmen.

In meiner Realschulklasse habe ich ein Referat darüber gehalten im Fach Mensch und Umwelt. Dabei habe ich auch über meinen Vater gesprochen. Niemand in der Klasse hat blöde ­Sprüche gemacht. Aber es hat auch keiner gefragt: Wie kommt man damit klar, dass sich der eigene Vater umbringen wollte? Das haben sie sich nicht getraut. Ich hätte dann gesagt: Das Ding ist, dass ich das nicht auf mich selbst bezogen habe. Früher habe ich immer alle Probleme in der Familie auf mich bezogen. Wenn ich schlechte Noten hatte, und die ­hatte ich oft, dachte ich, mein Vater ist deshalb so schlecht drauf. Mein Vater hat gesagt: Du hast nichts mit meiner Krankheit zu tun, und ich habe es ihm geglaubt.

Katja

Er hat uns einen Brief aus der Klinik geschrieben. Den habe ich aufbewahrt. Das Wichtigste, was er darin sagt, ist, dass wir Kinder nicht schuld daran sind, was mit ihm passiert ist. Und dass wir so, wie wir sind, perfekt sind. Ich habe den Brief in eine Folie gepackt, damit er geschützt ist, und abgeheftet. Er soll mich immer an die Zeit erinnern, als es schlimm war. Und dass der Vater uns und mich gesehen hat, auch wenn er nicht da war.

Uwe Hauck

Natürlich habe ich mich gefragt, warum ich so geworden bin, immer so unter Druck war, woher der Kontroll­wahn kam. Es hat viel mit meiner Mutter zu tun, der ich es nie recht machen konnte, und mit meinem Vater, der so krank war, dass er all ihre Aufmerksamkeit brauchte. Ich habe als Kind früh gelernt, dass es besser ist, wenn ich nicht auffalle. Am besten war es, wenn mich keiner wahrnahm, oder wenn, dann musste ich Leistung bringen. Aber eigentlich kann ich mich an das meiste in meiner Kindheit nicht erinnern. Ein Therapeut hat mir gesagt: Es hat schon ­seinen Grund, dass Sie sich vor ­diesen Erinnerungen schützen. Da müssen wir jetzt nicht dran rühren. Mir ist wichtig, wie Sie in der Gegenwart klarkommen.

Jan und Marc spazieren gerne zusammen durch die Felder. Marc (unten) hat seinem Bruder Jan vertraut. Der hat gesagt, dass schon alles gut ausgehen wird. Jan war nicht schockiert. Endlich war klar, was mit ihm los war.

Sibylle Hauck

Als Uwe wieder zu Hause war, ging eigentlich die schwerste Zeit erst los. Man denkt, jetzt geht es aufwärts, aber im Gegenteil. Sechs Monate musste er auf einen Platz in der Reha warten. Er lag auf der Couch und fühlte sich überflüssig. Wie ein ­Möbelstück, das im Weg stand, und das Leben ging um ihn herum weiter. Ich habe mir dann Beschäftigungen für ihn aus­gedacht, was im Garten oder in der Küche, was eigentlich sinnlos war – und das war am schlimmsten für ihn, das war ja genau das, wovor er sich fürchtete: nichts leisten zu können, nutzlos zu sein. Diese sechs Monate waren ein Rückfall. Alles schien wie vorher, wieder auf null. Er sagte ­dauernd, das bringt alles nichts. Ich bin nur eine Last für euch. Ich habe ihn dann am Ende förmlich in die Reha geschleppt.

Mir ging es oft schlecht in dieser Zeit. Ich war immer schlapp, fühlte mich schon morgens nach dem Aufstehen kaputt. Die Kinder haben das mitbekommen. Zum Glück waren die inzwischen alle in Therapie und ­haben sich da gut aufgehoben gefühlt.

Jan

Am meisten habe ich mir Sorgen um meine Mutter gemacht. Schlimm war, wenn sie auf Whatsapp wieder eine Nachricht von meinem Vater aus der Reha bekam, dass er aufgibt. Sie fühlte sich dann so hilflos, weil sie nicht bei ihm war, und wollte am liebsten sofort zu ihm. Einmal habe ich zu ihr gesagt: Du musst ihn lassen. Ruf in der Klinik an, aber fahr nicht hin. Er gewöhnt sich sonst daran, dass immer jemand kommt, wenn er um Hilfe ruft. Und das war gut. Ich hatte selbst erfahren, dass es nicht gut ist, immer meine Mutter zu bitten, mich von der Schule abzuholen, wenn es mir dort nicht gut ging. Ich merkte, dass ich auch allein klarkomme.

Dieses Gefühl, ich schaffe mein ­Leben schon, ist noch ziemlich neu für mich. Zum ersten Mal habe ich das gespürt, als ich vom Gymnasium auf die Realschule gewechselt bin. Das war kurz vor dem Selbstmordversuch von meinem Vater. Auf einmal hatte ich gute Noten. Ich hatte morgens keine Angst mehr, zur Schule zu gehen. Ich bin viel selbstbewusster geworden. Ich glaube, das war meine Rettung, denn sonst wäre ich vielleicht auch depressiv geworden. Man liest ja, dass die Krankheit die anderen in einer Familie wie in einem Strudel mit hinabziehen kann. Das Gymnasium war für mich eine dunkle Phase. Als ich dann in die helle Phase kam, hat mich das mit meinem Vater nicht so erschüttert. Ich dachte, für ihn kommt bestimmt auch wieder eine helle Phase.

Marc, 13

Mein Bruder konnte mir gut helfen, das mit meinem Vater zu verkraften, dem konnte ich alles sagen. Manchmal gehen wir spazieren, eine Runde durch die Äcker und Wiesen. Oder wir gehen zu Fuß zum Supermarkt. Dabei können wir gut reden. Mein Bruder hat gesagt, das wird schon gut ausgehen. Und ich habe ihm vertraut. Als mein Vater in der Klinik war, war ich mal drei Wochen am Stück krank, ich hatte Bauchweh, mir war schlecht. Ich bin zu einem Therapeuten gegangen, der war cool. Wie haben viel gespielt und geredet. Das Bauchweh ging mit der Therapie weg. Und ich hab dann auch die Schule gewechselt und bin wie meine Geschwister auf die Realschule gegangen.

Für mich war am schwersten, wenn ich mitbekommen habe, dass sich ­meine Eltern streiten. Dann habe ich sofort gedacht, die lassen sich scheiden. Das wäre das Schlimmste gewesen.

Ariane Heimbach

Ariane Heimbach war beeindruckt, wie offen und ­reflektiert die drei Kinder sind. Für die Interviews ging sie mit ihnen durch die Felder spazieren. Beim Gehen reden: Das hatten sie schon während der Krankheit des ­Vaters gemacht.
Joshua Kaiss

Anne-Sophie Stolz

Anne-Sophie Stolz bewundert, mit welcher ­Offenheit und Klarheit die Familie über die Krankheit und deren Auswirkungen aufklärt.

Sibylle Hauck

Es gab Momente, da dachte ich, ich kann nicht mehr, meine Kraft ist am Ende. Aber dann reißt man sich zusammen und sieht wieder: Jetzt ­haben wir schon so einen langen Weg gemeinsam geschafft. Das kann doch nicht alles vergeblich gewesen sein. Meine Eltern waren für mich dabei ganz wichtig. Sie haben mich immer unterstützt, auch darin, zu Uwe zu halten.

 Uwe Hauck

Nach anderthalb Jahren Krankschreibung habe ich wieder angefangen zu arbeiten. Doch schon am ersten Tag hatte ich einen Rückfall. Ich dachte, ich schaffe das nicht, niemand nimmt mich hier mehr ernst. Die Angststörung ist nicht so, dass ich permanent Angst habe, aber wenn ich Angst habe, dann ist sie massiv. Inzwischen habe ich immer eine Pillendose für Notfälle in meiner Hosentasche. Darin sind eine kleine Tavor, das ist ein sehr starkes Beruhigungsmittel, meine Antidepressiva und vor allem ein Stück Chilischote.

Wenn ich spüre, dass die Panik anschwillt, kaue ich die. Das tut weh, und mit diesem heftigen Reiz trickst man seinen Körper aus, der sich jetzt nicht mehr mit der Angst, sondern erst mal mit dem Schmerz beschäftigen muss. Ich habe das einmal auf der Arbeit gebraucht, und es hat gewirkt. Wenn ich die Angst bremsen kann, kommt auch die Depression nicht. Beides hängt zusammen. Depression kann man nicht heilen, aber man kann lernen, wie man sie unter Kontrolle bringt – und darin bin ich ja ziemlich gut. Ich brauche bis heute die Stütze durch die Tabletten. Und es ist wichtig, sich diese Schwäche einzugestehen.

"Mein Vater ist jetzt der, der er eigentlich ist, aber den man noch gar nicht kannte"

Sibylle Hauck

Die Krankheit meines Mannes hat uns alle verändert. Wir reden heute ­offener darüber, was jeden beschäftigt. Und ich kann mich mehr durchsetzen als früher. Das fing damit an, dass ich die Kinder auf der Realschule angemeldet habe. Für Uwe musste es das Abitur sein, drunter ging es nicht. Was er von sich erwartet hat, galt auch für sie. Aber er hat nicht gesehen, dass sie unter dem Leistungsdruck litten. Ich fühle mich heute stärker als früher, nicht körperlich, aber innerlich. Ich lasse mir vieles nicht mehr gefallen, zu Hause nicht, aber auch nicht wenn ich woanders bin.

Wir haben als Familie in Abgründe geschaut, in die viele andere wahrscheinlich nicht blicken. Zu erleben, dass man das gemeinsam übersteht, ist auch eine positive Erfahrung. Wir sind nicht daran kaputt gegangen. Und Uwe? Er ist spontaner, nicht mehr so kontrollierend. Er ist wieder mehr der Mann, in den ich mich verliebt habe vor 24 Jahren. Ich wusste immer, der ist noch da, der ist nur sehr lange in ihm verschwunden.

Uwe Hauck hat über seine Krankheit ein Buch geschrieben:"Depression abzugeben. Erfahrungen aus der Klapse", 432 S., 10 Euro, Bastei Lübbe

Uwe Hauck

Ich habe inzwischen einen anderen Job: beim selben Arbeitgeber, aber nicht mehr als Softwareentwickler, sondern in der Hotline. Das tut mir gut, ich habe kleine Erfolge jeden Tag, kann Leuten helfen, und abends setze ich mein Headset ab und lasse alles hinter mir. Das spürt auch die Familie. Ich kann mich wieder wertschätzen und bin lockerer geworden. Früher war mein Leben ein ständiges Abhaken von Erledigtem und wieder neues Planen. Kästchen für Kästchen. Heute genieße ich mehr den Moment. Ich spüre tatsächlich, das klingt für einen Mann vielleicht komisch, was nur meiner Seele guttut, was mir einfach Freude macht. Wie das neue Te-les­kop, das ich mir gekauft habe. Ein Riesending. Damit kann ich sehr weit ins Weltall schauen, zu Nebeln und Galaxien, das ist ungeheuer beruhigend.

Früher habe ich mir ja selbst keine Fehler erlaubt. Und dann habe ich so einen Mist gebaut. Jetzt sage ich zu meinen Kindern: Dazu stehe ich. Ich hoffe, dass ihr mir verzeiht.

Katja

Ich sehe das so: Eine blöde Krankheit hatte meinen Vater übernommen, und als er die Depression besiegt hat, ist eine andere Person aus ihm hervorge­kommen, netter, hilfsbereiter und ­cooler. Er ist jetzt der, der er eigentlich ist, aber den man noch gar nicht kannte. Und jetzt kann man sehen, was für ein toller Vater er eigentlich ist. Es wird ja immer gesagt, die Krankheit wird nie ganz weggehen, die ist ein Teil von ihm. Aber wir kennen uns jetzt damit aus. Wir können als komplette Familie zeigen, wie man mit Depression umgeht und dass man sich helfen lassen muss, bevor es zu spät ist.

Infobox

Lektüretipps:

Uwe Hauck hat über seine Krankheit ein Buch geschrieben:"Depression abzugeben. Erfahrungen aus der Klapse", 432 S., 10 Euro, Bastei Lübbe

Huub Buijssen: "Depression. Helfen und sich nicht verlieren. Ein Ratgeber für Freunde und Familie", 187 S., 17,95 Euro, Beltz

Matthew und Ainsley Johnstone: "Mit dem schwarzen Hund leben: Wie Angehörige und Freunde depressiven Menschen helfen können, ohne sich dabei selbst zu verlieren", 80 S., 14,90 Euro, Antje Kunstmann

 

Volkskrankheit Depression

Etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann sind im Laufe ihres Lebens einmal von einer Depression betroffen. Dennoch gehören Depressionen zu den hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Krankheiten. Gute Informationen und Hilfe bietet die Deutsche Depressionshilfe (Info-Telefon Depression: 0800 / 33 44 533; www.deutsche-depressionshilfe.de. Außerdem die Seite des Bundesgesundheitsministeriums: www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/depression

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Der Mann hat einen stressigen techn. Beruf. In diesen Berufen wird nur rationales Denken geschult und Emotionen vernachlässigt.
Die Frau ist zu Hause bei den Kindern und prägt diese. Ich denke, dass (fast) alle Kinder die Anlagen für ein heutiges Abitur haben. Wenn die Kinder das aber nicht schaffen, liegt das hauptsächlich an der Mutter. Da spielen Eigenschaften wie Stressresistenz und
Motivation der Mutter die wichtigste Rolle. Wenn der Vater dann enttäuscht ist, muss dieser behandelt werden (lol).

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Vielen vielen Dank für diese Interviews mit dieser mutigen, authentischen Familie. Wir durchleben derzeit Ähnliches, stecken mittendrin und dieser Artikel lässt mich nicht mehr ganz so verzweifeln. Denn er zeigt, es kann besser werden.

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.. unsere Familie steckt da eher fest. Mein Vater nimmt seine Medis und lässt sich ansonsten kaum helfen, ist jetzt schon ca. 10 Jahre berentet. Wir Kinder sind erwachsen und ausgezogen und tragen unseren seelischen Blessuren davon. Meine Mutter funktioniert und hat in der Arbeit mit Kindern ihre Erfüllung gefunden. Familienleben gibt's eig. nicht mehr groß. Ich arbeite im psychiatrischen Bereich, habe gelernt mich zu distanzieren. Meine Mutter sagt: "In guten wie in schlechten Tagen" und tut so, als wäre alles toll. Ich würde gern selbst eine Familie gründen, finde es aber gruslig, dadurch evtl. wieder mehr Kontakt zu haben. Ich kann bis heute nicht unterscheiden, ob sich mein Vater im Rahmen der Depression heute noch oft so unmöglich mir gegenüber verhält oder ob er einfach auch nur keinen guten Charakter besitzt. Ich schau nach vorn, versuche meinen Bruder zu unterstützen und leb mein eigenes Leben. Es gibt leider nicht für jede Familie ein Happy End.