Leben im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos
Michael Güthlein
Nur ein Stück Papier
Dezember 2017: 6000 Flüchtlinge harren auf der griechischen Insel Lesbos in Müll und Schlamm aus. Mahmoud ist einer von ihnen. Sein Traum: Breakdance-Weltmeister werden*
24.01.2018

„Okay, aber jetzt lass uns über was Normales reden!“, sagt Mahmoud, der mir in einem Café gegenübersitzt, am Ende seiner Geschichte. Wir essen Gyros mit Pommes und Salat, trinken Cola. Mahmoud ist 24 Jahre alt, trägt Vollbart und 
einen Ohrring im linken Ohr, an 
dem ein kleines Dreieck baumelt. Sein Lieblings­musiker ist Chris Brown. Ich bin 28, trage auch Bart und höre lieber Fleetwood Mac. Er hat einen Youtube-­Kanal mit 2200 Abonnenten, auf dem er waghalsige Breakdance-Moves vorführt. Ich gehe einmal im Quartal joggen. Er hat Tourismus studiert, ich Journalismus. Unter normalen Umständen könnten wir Kumpels sein. Aber Mahmoud hat ein Problem, das ich nicht habe. Er ist im falschen Teil der Welt geboren: im syrischen ­Raqqa. Ich komme aus einer Kleinstadt in Oberfranken. Wir treffen uns in der Mitte, auf der griechischen Insel Lesbos. Ich war sieben Stunden unterwegs, er zwei Jahre. Ich kann weiterfliegen, wohin ich will. Er steckt auf der Insel fest.

Ich bin Anfang Dezember nach Lesbos gekommen, um über die Situation vor Ort zu schreiben. Es ist das erste Mal, dass ich in einer Art Krisengebiet unterwegs bin. Noraly, eine Freundin von mir, arbeitet seit ein paar Monaten für die niederländische NGO Boat ­Refugee Foundation im Lager. Sie hat mir vom Elend in Moria berichtet. Wie schockiert sie war, als das erste Mal ein blutverschmierter Mann auf sie zukam, der sich selbst verletzt hatte. Nun sieht sie täglich, wie Menschen sich die Arme aufschneiden. Sie erzählt, wie sie zusammengebrochen ist, als sie den Friedhof der Rettungs­westen im Norden der Insel gesehen hat. In diesem Moment sei ihr schlagartig bewusst geworden, dass jeder Mensch im Lager – jede Schwangere und jedes Kind – in Schlauchbooten über das Meer gekommen ist. Als ­ihre Mutter zu Besuch war, fuhren sie noch mal zum Friedhof der Rettungswesten. Als Noraly ihn das zweite Mal sah, war er schon Teil ihrer neuen Normalität.

Eine Fähre kommt im Hafen von Mytilini an. Am Horizont ist die türkische Küste zu sehen

Lesbos ist eine griechische Insel mit 85 000 Einwohnern in der östlichen Ägäis. Die türkische Küste liegt knapp dreizehn Kilometer entfernt und ist mit bloßem Auge erkennbar. Mytilini, Verwaltungssitz der Insel, versprüht mediterranen Charme: ­schmale Gassen, eng beieinander gebaute Häuschen, Katzen fläzen sich am Wegesrand und Jugendliche treffen sich in hippen Cafés. Morgens taucht die ­Sonne die an einem Hang gelegene Hafenstadt in weiches, goldenes Licht.

„Moria no good“

Mahmoud erzählt, wie er in Raqqa aufgewachsen ist, wie ihm ein Kumpel den Tanzfilm „Step Up“ empfohlen hat und er daraufhin zum besten Breakdancer der Stadt wurde. „Aber vermutlich auch zum einzigen“, sagt Mahmoud breit grinsend. Dann brach der syrische Bürgerkrieg aus und 2013 nahm der sogenannte Islamische Staat Raqqa ein. Mahmoud floh mit seiner Mutter und vier jüngeren Geschwis­tern in die Küstenstadt Latakia, eine Assad-Hochburg. Zwei seiner Schwes­tern, die bereits verheiratet sind, blieben zurück und gelten seither als vermisst. In Latakia passierte Mahmoud täglich Checkpoints der Armee. „Du bist aus Raqqa? Bist du vom IS? Bist du ein Spion? Das haben sie mich immer gefragt, wenn ich durchwollte“, erzählt Mahmoud. Manchmal ließen sie ihn einfach gehen, manchmal nahmen sie ihn mit, sperrten ihn in einen Keller, verbanden ihm die ­Augen, ­gaben ihm Ohrfeigen, schrien ihn an und ließen ihn wieder frei. ­Immer wieder wollten sie ihn zum Militärdienst einziehen und an die Front schicken, doch weil er nach dem Tod seines Vaters zum Familienoberhaupt geworden war, wurde er freigestellt. „Diese Papiere sind gefälscht!“, riefen die Soldaten jedes Mal, wenn sie das entsprechende Dokument lasen.

Das Camp Moria platzt aus allen Nähten, daher stehen die Zelte in einem nahen Olivenhain

„Moria no good“, sagt ein griechischer Taxifahrer – ein geflügeltes Wort auf Lesbos, weil sich seit zwei Jahren nichts an der Lage geändert hat. Die Menschen auf Lesbos ­fühlen sich von der Regierung in Athen und von der EU mit der Dauerkrise allein­gelassen. Moria erstreckt sich an einem Hang zwischen Oliven­hainen. Stachel­drahtbewehrte Zäune um­geben das Camp, das früher als Gefängnis gedient hat. Für Journalisten ist der Zutritt verboten, aber es ist nicht schwierig, ins Lager zu schlüpfen. Die Regierung in Athen, die das Lager betreibt, will unschöne Bilder vermeiden. Die Wege sind ­voller Schlamm und gesäumt von leeren Plastikflaschen, vollen Windeln und vergammeltem ­Essen. Neben einem Müllhaufen wiegt eine Frau ihr Neugeborenes auf dem Arm. Moria ist ausgelegt für 2200 Personen. Derzeit leben über 6000 hier.

Eines Tages hielt es Mahmoud nicht mehr aus. Er beriet sich mit seiner Mutter. Sie sagte: Nimm deinen jüngeren Bruder und geh! Sie kam dann mit bis an die Grenze des von ­Assad kontrollierten Gebietes. Da­hinter haben die Rebellen das Sagen. Dieses Mal waren Assads Soldaten strenger. „Ich sagte, dass ich eine Tante besuchen will, aber sie glaubten kein Wort und wollten mich sofort mitnehmen“, erzählt Mahmoud. „Ich dachte: Jetzt ist es aus.“ Seine Mutter flehte die Soldaten an und versprach ihnen viel Geld. Für einen ganzen syrischen Jahreslohn ließen sie Mahmoud und seinen Bruder passieren.

„Ich will für niemanden töten!“

Jeder freie Meter in Moria ist von dünnen Zelten bedeckt. Sie stehen auf Paletten und Pappkartons, über manche sind Planen des UN-Flüchtlingswerks UNHCR geworfen oder bloße Rettungsdecken, um sie besser vor der Kälte zu isolieren. Ein paar Kinder haben eine alte Dachrinne zu einem Schlitten umfunktioniert und fahren johlend einen Hang hinab. Männer sitzen auf Kisten und starren ins Leere. Eine rosa Kinderpyjamahose hängt zum Trocknen auf Nato-Stacheldraht.

Als Mahmoud mit seinem Bruder in der Türkei ankam, hatte er kein Geld mehr. Um sich über Wasser zu halten, faltete er in einer Fabrik Kleidung und packte sie in Kartons, täglich 16 Stunden, sechs Tage die Woche. „An guten Tagen nur 13 ­Stunden“, berichtet er über seine Zeit in der Türkei. Es waren die schlimmsten Jahre seines Lebens, sagt er heute. „Wenn du zehn ­Minuten zu spät kommst oder krank bist, schmeißen sie dich raus.“ Umgerechnet 300 Euro erhielt er dafür im Monat. Wenn er noch Kraft fand, ging er zu Breakdance-Wettbewerben. „Aber als Syrer kannst du nicht gewinnen“, seufzt er. „Sie hassen Syrer.“ Für Miete müssen Syrer das Doppelte bezahlen. Deswegen werden sie von Vermietern bevorzugt und von wohnungssuchenden Türken verachtet. „Wenn Kurden mitbekommen haben, dass ich Syrer bin, haben sie mich beschimpft: ­Warum stirbst du nicht in deinem Land, du Feigling?“, erzählt Mahmoud. Solche Bemerkungen verletzen ihn. „Für wen soll ich denn sterben? Assad? Den IS? Die Rebellen? Mir ist egal, wer recht hat: Ich will für niemanden töten!“ Nach zwei Jahren hielt er es nicht mehr aus und kehrte der Türkei den Rücken.

Frauen stehen im Lager Moria für medizinische Versorgung an

In einem Olivenhain außerhalb Morias liegt eine zweite Zeltsiedlung. Dort wohnen die, die nicht mehr in das überfüllte Camp passen. Eine ­Tafel begrüßt Besucher: „No water, no ­Wi-Fi, Winter is coming.“ Im Oliven­hain befinden sich keine Sanitär­anlagen. Als Dusche dient ein alter Wasserschlauch, der hangabwärts aus einem Garten hängt. Das Wasser ist kalt. Ein Rinnsal aus abgewaschenem Shampoo läuft einen Feldweg hinab und versickert zwischen Olivenbäumen.

„Von hier aus könnt ihr schon die Lichter sehen“, sagte der Schlepper zu Mahmoud, als er das Schlauchboot nachts in die Ägäis schob. „In 50 Minuten seid ihr drüben.“ Mahmoud saß mit 70 Personen im Boot. Für seinen Bruder hatte er eine Rettungs­weste organisiert, er selbst sei ein guter Schwimmer, sagt er. Als die Küste von Lesbos nach fünf Stunden immer noch nicht näher war, verlor er die Hoffnung. Das Benzin ging zur Neige. Mahmoud lehnte sich zurück, schloss die Augen und dachte: „Wenn ich lebe, lebe ich, wenn ich sterbe, sterbe ich.“ Eine Stunde später rüttelte ihn ein Passagier am Arm und sagte: „Wir sind da.“ Die Polizei gabelte sie auf und brachte sie nach Moria.

„Was ist der Unterschied zwischen uns?“

Am 10. Oktober 2017 veröffentlichte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen einen alarmierenden Bericht. Die psychische Gesundheit der Menschen in Moria sei katastrophal. Ein Großteil der Bewohner sei traumatisiert. Die Zahl der Selbstverletzungen und Selbstmordversuche steige ­stetig. Der Alkohol- und Drogenkonsum nehme bedenklich zu. Auf der Warte­liste für psychologische Betreuung standen über 500 Menschen. „Chancen auf einen Therapieplatz hängen nicht davon ab, ob man vergewaltigt oder gefoltert wurde, sondern wie schwer und wie oft“, sagt Noraly.

Hohe, stacheldrahtbewehrte Zäune umgeben das Camp

Mahmoud und ich schlendern an der Hafenpromenade in Mytilini entlang. Mahmoud fragt mich: „Was ist der Unterschied zwischen uns?“ Ich zucke mit den Schultern. Mahmoud wedelt mit einer Serviette und sagt: „Nur ein Stück Papier.“ Auf einem Stück Papier steht auch die Einschätzung, ob jemand als „besonders gefährdet“ gilt. Darunter fallen Schwangere, junge Mütter, Minderjährige und Kranke – auch psychisch Kranke. Viele sehen das als Chance. „Sogar die, die zurechtkommen, simulieren Depressionen“, sagt Mahmoud. „Warum auch nicht? Ich hätte es auch tun sollen, aber ich wollte nicht lügen.“ Auf seinem Dokument steht unter besonders gefährdet „No“. Besonders ­Gefährdete haben bessere Chancen, dass ihr Asylantrag bewilligt wird.

Tim Wegener

Michael Güthlein

Michael Güthlein war für diese Reportage Anfang Dezember drei Tage lang auf Lesbos. Ihn hat vor allem die Unermüdlichkeit vieler NGO-Mitarbeiter beeindruckt, die Tag und Nacht da einspringen, wo die EU-Mitgliedsländer seit zwei Jahren versagen.

Alle paar Nächte kommt es zu Massenschlägereien oder gewalttätigen Protesten. Ein Funke und die Lage könnte eskalieren. Vor den Toren Morias stehen Busse mit Polizisten einer Spezialeinheit. Sie lehnen sich auf ihre Schilder, rauchen und warten auf diesen Funken. Dann rücken sie an und prügeln Ordnung ins Camp. „Eines Tages werde ich Welt­meister im Breakdancing“, schwärmt Mahmoud. Einige Tage zuvor hat er seinen ersten Unterricht gegeben und daraus neuen Mut geschöpft. Eine NGO hatte ihm angeboten, Kurse zu geben: drei Mal die Woche, außerhalb des Lagers. Mahmouds Spitzname ist Mask, nach dem Film „Die Maske“ mit Jim Carrey. Mit einer Hand greift er sich an die Mütze, dreht eine ­Pirouette und schnippt mit dem Finger. Es ist eine markante Tanzbewegung aus dem Film, die zu seinem Break­dance-Repertoire zählt.

Die Chance auf Bewilligung seines Asylantrags schätzt er auf 50:50. Dafür spricht, dass er aus Syrien kommt und als Aufsichtsperson seines Bruders durchgeht. Dagegen, dass er zwei Jahre in der Türkei gelebt hat, die als sicheres Drittland gilt. Wann er mit einer Anhörung rechnen kann, weiß er nicht. Falls sein Antrag abgelehnt wird, weiß er nur, was er nicht will: „Lieber sterbe ich in Syrien, als noch mal zurück in die Türkei zu gehen.“ Mahmoud lacht viel. Er amüsiert sich über deutsche Wörter wie „sozialversicherungspflichtig“ und versteht nicht, warum sich Deutsche immer anschnallen. „Ich fühle mich wie ein Mensch, aber gerade bin ich unter null“, sagt er. „Null heißt, ich darf arbeiten und habe ein Zuhause.“ Ein Flüchtling sei er auch nicht: „Ich habe noch keinen Asylbescheid.“ Er schüttelt den Kopf: „Was bin ich gerade?“ Nach vier Tagen fliege ich zurück nach Deutschland. 35 Minuten dauert der Flug von Mytilini nach Athen. ­Eine Strecke, für die viele Gestrandete auf Lesbos über ein Jahr brauchen, wenn sie es überhaupt je schaffen. Um nach Athen zu kommen, zeige ich zwei Mal meinen Reisepass: ein Stück Papier.

 

*Update: Nach Redaktionsschluss (Mitte Januar 2018) wurde der Asylantrag von Mahmoud und seinem jüngeren Bruder bewilligt. 

Spendeninfo

Die NGO Boat Refugee Foundation betreut Flüchtlinge im Camp medizinisch und psychosozial.

Empfänger: Boat Refugee Foundation (Stichting Bootvluchteling)
Adresse: Mariahoek 16, 3511 LG Utrecht, The Netherlands
Kontakt: info@bootvluchteling.nl
IBAN: NL97 RBRB 0918 9326 37
BIC: RBRBNL21 REGIOBANK
Verwendungszweck: Stichting Bootvluchteling

Die Nonprofit-Organisation ­European Lawyers in Lesvos berät ­Flüchtlinge ehren­amtlich in Asyl­rechtsfragen.

Empfänger: European Lawyers in Lesvos gGmbH
Adresse: Littenstraße 11, 10179 Berlin
Kreditinstitut: Deutsche Bank
IBAN: DE95 1007 0024 0088 9998 00
SWIFT/BIC: DEUTDEDBBER
Verwendungszweck: Donation to European Lawyers in Lesvos gGmbH

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