Donata Elschenbroich
Donata Elschenbroich
Foto: Claudius Grigat
Vor einigen Jahren fand Donata Elschenbroich im Nachlass ihrer Mutter einen Text von ihr über den 2. Mai 1945
Tim Wegner
Tim Wegner
27.04.2015

Vor einigen Jahren fand Donata Elschenbroich im Nachlass ihrer Mutter einen Text von ihr. Darin beschreibt sie den ersten "Friedenstag" für sie, den 02. Mai 1945.

Gabriele Elschenbroich, Jahrgang 1915, wohnte zu diesem Zeitpunkt mit den beiden Kindern in Berlin-Wannsee. Ihr Mann war als Soldat in Italien, ihre Mutter und Großmutter - beide Jüdinnen - befanden sich im KZ Theresienstadt. Und sie erwartete die Ankunft der russischen Truppen.

An diesem Tag sollte die Nachbildung einer Forelle aus Porzellan eine bedeutende Rolle spielen...

Donata Elschenbroich hat den Text für chrismon im Original eingelesen:

 

Und hier noch einmal die Erzählung zum Nachlesen:

Gabriele Elschenbroich: Die Porzellanforelle

Am Morgen des 2. Mai 1945 wachten wir später auf als je zuvor in den vergangenen Wochen, seit der Granatwerferbeschuss, der der Verbindungsstraße von Berlin nach Potsdam galt, begonnen hatte. Das kleine Haus lag tief versteckt hinter märkischen Kiefern, unter die sich ein paar junge Birken gemischt hatten, etwas abseits von der ruhigen Vorortstraße und nur etwa 100 Meter entfernt von eben der Potsdamer Chaussee, auf der noch in diesen allerletzten Kriegstagen und -nächten sowjetisches Artilleriefeuer lag. Wir hatten seit 2 Wochen kein Wasser, kein Gas und keinen Strom, da die deutsche Wehrmacht vor ihrem Abzug die Wannseebrücke und die Glienickerbrücke, die uns nach beiden Seiten mit dem Festland verbanden, gesprengt und uns damit zu Inselbewohnern gemacht hatte. Ein paar Eimer Wasser holten wir uns jeden Morgen in einer kurzen Feuerpause von einer 200 Meter entfernten Pumpe. Da standen wir Frauen in langen Schlangen an und hofften, dass wir mit unseren kostbaren 2 Eimern Wasser noch heil nach Hause kämen, ehe es wieder losging. Die Russen lagen keine 800 Meter entfernt am anderen Ufer des schmalen Stölpchensees – manchmal hörten wir ihr MG-Feuer, das für unsere ungeübten Ohren ziemlich nahe klang, aber wohl nicht direkt auf unsere Straße zielte. Die abziehenden Landser hatten uns geraten, beim Wasserholen deutlich als Frauen gekennzeichnet mit Kopftuch und heller Schürze mitten auf der Straße zu gehen und uns nicht mit den Stahlhelmen und Tarncapes zu camouflagieren, die wir allmorgendlich in unseren Vorgärten verstreut herumliegen fanden, nachdem ihre Besitzer sich, wie man damals sagte, „abgesetzt“ hatten.

Wir – das waren Lilo, eine Berlinerin mit ihrer zweijährigen Tochter Anke, und ich mit meinen beiden Kindern.

Christoph war fünf Jahre alt und Donata, die noch gestillt wurde, sechs Monate. Mein Mann war an der zusammengebrochenen Italienfront – wir hatten seit einem Monat keinen Nachricht mehr voneinander.

Seit fast zwei Wochen waren wir nachts nicht mehr aus den Kleidern gekommen, denn obwohl die Luftangriffe seit der Belagerung von Berlin aufgehört hatten (und mangels Strom auch der verhasste Sirenenton!), so schlug doch hier und da eine Granate in unserer Nähe ein und erst vor 3 Tagen war in unserer Nachbarschaft ein Haus heruntergebrannt. Völlig ungewarnt, wie wir nun waren, mussten wir jeden Moment bereit sein, Kinder, Taschenlampen und Thermosflaschen zu packen und in den Keller zu gehen.

Der Beschuss muss in den frühen Morgenstunden aufgehört haben – wir hatten alle, todmüde wie wir waren, tief und fest in den Tag hinein geschlafen. Als ich die Verdunkelungsrollos aufzog, stand die Sonne schon hoch am Himmel – ich weiß noch, dass es ein strahlend schöner Frühlingstag war mit einem seidig blauen Himmel, vor dem das erste junge Birkenlaub tanzte. Wir rieben uns die Augen – wir horchten – es war still, ungewohnt, unheimlich still. Das Erste, das uns auffiel, war, dass die Vögel sich wieder getrauten zu zwitschern: ihre lieben Stimmen waren zugedeckt gewesen von dem infernalischen Misston der Geschütze.  Und dann hörten wir von der Chaussee her das dumpfe, monoton rasselnde Geräusch der Panzerketten. Wir sahen uns an, Lilo und ich, und sagten wie aus einem Mund: „Na endlich!“ Die Russen waren da – es war Schluss – es war vorbei – und wir lebten.

Nichts war da als eine unbeschreibbare, grenzenlose Erleichterung. Was immer nun noch kommen würde – wie schlimm konnte es denn sein? Wir hatten die Belagerung überstanden, wir hatten die Kinder im Arm und wir waren zu Hause! Das war keine Selbstverständlichkeit. Wir hätten – selbst wenn keine einschlagende Granate uns hinausgetrieben hätte, in den Sog der Panik gerissen werden können, der die Frauen in unserem gutbürgerlichen Vorort erfasst hatte – und am stärksten die, die noch vor 4 Wochen am lautesten Durchhalteparolen verkündet hatten. Wie so viele hätten auch wir ohne Zielvorstellung – außer der einen: Bloß Richtung Westen und weg von den Russen! – eine Flucht über die verstopften Straßen versuchen können. Als ob es zu diesem Zeitpunkt noch ein „den Russen entkommen“ gegeben hätte! Sie standen ja im Kreis rings um Berlin und der Berliner Volksmund hatte einmal wieder Recht behalten, als er schon 1944 prophezeite: „Der Krieg ist erst aus, wenn wir mit der S-Bahn an die Ostfront fahren!“

Wir waren also zu Hause geblieben und das verdankten wir eigentlich unseren kleinen Kindern. Wie hätten wir mit 2 Kinderwägen und einem Fünfjährigen an der Hand über die chaotischen Straßen vorankommen können? Wir blieben also und warteten und nun war es so weit.

Ich weiß, dass es im Nachhinein unglaubhaft klingt, aber es stimmt: wir hatten zwar keine Illusion über das, was uns bevorstehen konnte, aber auch keine Angst – wir waren jenseits von Angst an diesem hellen Maienmorgen, an dem wir nur wussten: der Krieg ist aus – (hier und jetzt für uns!). Weiter konnten wir Inselbewohner nicht denken und wir waren auch zu erschöpft dazu.

Das Thema Vergewaltigung war den letzten Kriegswinter hindurch in allen Varianten und allen Lautstärken erörtert worden – vom Posaunenton der Propagandamaschine über zahlreiche, teils angstbesetzte, teils ungläubig-skeptische Vermutung hinter vorgehaltener Hand – (denn was konnte man „denen“ schon glauben, wo „die“ doch nur logen!).

Der Galgenhumor der Berlinerin kam unser aller Empfindung am nächsten. Ein Ausspruch, der von Mund zu Mund ging, lautete: „Also, wenn Sie mir fragen – ick lieg‘ immer noch lieber unter nem Russen als unter nem vierstöckigen Mietshaus!“

Das war keine Schnoddrigkeit, das war einfach realistische Konfrontation mit der Lage, in der wir uns alle befanden. Es kann auf keinen Fall schaden, hatte ich mir im Stillen gedacht, wenn man mit den Russen wenigstens ein paar Worte in ihrer Sprache reden kann. Während meines Musikstudiums hatte ich ein paar Russisch-Stunden genommen, um Moussorgsky und Tschaikowsky in der Originalsprache singen zu können. Das lag Jahre zurück und diese romantischen Texte von Puschkin und Lermontow hätten sich jetzt wohl kaum als Begrüßungsformel geeignet. (Wer weiß, denke ich heute, wo ich etwas mehr über „die“ Russen weiß – vielleicht wären sie gerade über die Kunst ihres Landes ansprechbar gewesen?)

Aber ich hatte doch in diesem April 45, als „sie“ vor der Tür standen, einen etwas situationsgerechteren Empfang geplant. Heimlich, darüber sprechen durfte man nicht, das wäre schon sträflicher Defaitismus und Zweifel am Endsieg gewesen, lernte ich aus „1000 Worte Russisch“, Kapitel „Ankunft im Gasthof“, ein paar freundliche Redewendungen auswendig, darunter: „Mein Herr, möchten Sie die Zimmer sehen?“ und „Bitte kommen Sie – ich zeige Ihnen alles“.

Auch die Frage: „Möchten Sie rauchen?“ hatte ich mir nebst einigen Päckchen ersparter Notfallzigaretten zurechtgelegt.

So unglaublich naiv und verharmlosend das klingen mag – damals war es echt! Wenn es möglich wäre, an den Menschen hinter der fremden Uniform heranzukommen, und sei es durch ein paar Worte in seiner Sprache, die nicht Angst ausdrückten, sondern Vertrauen – und zwar im allerersten Augenblick der erzwungenen Begegnung, was konnte es schaden? Konnte es nicht im Gegenteil helfen? Es war eine Flucht nach vorn – das weiß ich heute. Aber es half.

Natürlich hatte ich auch Glück. Sie waren so konsterniert, diese ersten Soldaten, die die Straßen und Häuser durchkämmten, allein schon dadurch, dass sie bei uns die Haustür und das Fenster daneben offenstehend fanden. Es war inzwischen Mittag geworden. Wir hatten seit Stunden ringsum die Fensterscheiben klirren und die Läden splittern gehört, weil die wenigen Familien, die noch da waren, alles verrammelt hatten. (Heute muss ich sagen: DAS finde ich naiv!)

Wir waren froh, ein paar Scheiben über den Beschuss herübergerettet zu haben und hatten beschlossen, alles offen zu lassen, da sie ja doch über die Mittel verfügten, sich Einlass zu schaffen.

Und dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Die Russen waren Menschen, die lachen konnten – und es war möglich, mit ihnen zu lachen! Und – sie konnten spielen – neugierig spielen wie Kinder! Natürlich nicht im ersten Augenblick, als zwei von ihnen mit vorgehaltener Waffe, nach allen Seiten sichernd, bei uns im Hausflur standen. Ob sie eine Finte witterten, einen Hinterhalt, weil ich ihnen so arglos mit den Kindern entgegenkam? Sie stutzten, dann grinsten sie, als ich mich vor ihnen aufbaute und in meinem miserablen Russisch meine Sprüchlein heruntersagte: „Guten Tag. Ich zeige Ihnen das Haus. Dies sind meine Kinder.“

Sie wurden dienstlich (auf Deutsch!): „Mann hier? Soldat? SS?“ Sie schoben mich beiseite, durchsuchten das Haus, auch den Keller – ich ging, das Baby auf dem Arm, den tief beeindruckten, aber Gott sei Dank ganz zutraulichen Christoph (der schon viel Einquartierung und Uniform erlebt hatte) – neben mir. Wir kamen ins Wohnzimmer, wo wir, da es ebenerdig in der Mitte des Hauses lag, so viele Nächte zu fünft und manchmal mehr campiert hatten. Das Bettzeug lag noch auf dem Boden und irgendwo mittendrin Donatas Schnuller. Ich sehe noch den dickeren, älteren der beiden, wie er sich nach einem Blick über die Schulter bückte, den Schnuller aufhob – (woran mag er ihn erinnert haben?) – und ihn sich wie eine Zigarette zwischen die Lippen steckte, ehe er ihn wieder ausspuckte. Der andere, jung und semmelblond, versuchte Würde und Dienstlichkeit mit kindlicher Neugier zu kombinieren; er stöberte herum, klimperte ein paar Töne auf dem Klavier, trat – gewissermaßen pro forma – mit dem Stiefel gegen die unterste Reihe Bücher – steckte eine Armbanduhr ein, die herumlag. Die Waffe hatten beide inzwischen weggesteckt.

Wir standen herum und dachten: Wie geht es jetzt weiter? Was wollen sie? Wann gehen sie? Kommen da nicht schon andere durch den Garten?

Es war ein toter Punkt eingetreten, eine windstille Ernüchterung, und eine Sekunde war mir kalt vor Angst. Donata fing auf meinem Arm zu schreien an – sie hatte Hunger. Was sollte ich tun? Ich wagte ebenso wenig, aus dem Zimmer zu gehen, wie ihr vor den Männern die Brust zu geben.

Und in diesem kritischen Augenblick passierte etwas so Unvorhergesehenes, Unvorhersehbares, dass es mir noch heute so gegenwärtig ist wie ein angehaltenes Video.

Der jüngere der beiden, der Semmelblonde, hatte unter ein paar Kopenhagener Porzellanfiguren auf dem Bücherbord einen Fisch mit weit offenem Maul entdeckt, eine rundgebogene Forelle. Er holte sie sich herunter, drehte sie ganz fasziniert in den Händen herum, schüttelte sie, und – im Bauch der Forelle klingelte und klapperte es. Da drin hatte ich am Tag davor einen Ring deponiert, der mir viel wert war. Den Fischbauch hatte ich für das denkbar sicherste Versteck gehalten.

Donata hörte sofort auf zu schreien – alle drei Kinder schauten gebannt auf den Russen, der sich über das wunderliche deutsche Spielzeug vor Lachen ausschütten wollte. Wie lange hatte ich so ein Lachen nicht mehr gehört? Es kam direkt aus dem Bauch und war voll ansteckendem, befreiendem Entzücken. Wir lachten alle mit – Lilo und ich zunächst noch etwas gezwungen, Christoph wohl ein bisschen gönnerhaft, während Anke und Donata vor Vergnügen kreischten. „Und wenn er jetzt den Porzellanfisch auf den Boden wirft und den Ring findet – wie wird er reagieren?“, so schoss es mir einen Moment lang durch den Kopf. Aber im nächsten Moment hatte der Ältere (der vielleicht selber Kinder hatte) ein Streichholz angezündet und es – brennend – der Kopenhagener Porzellanforelle in den Rachen gelegt. „On kurit!“ – er raucht!, teilten die beiden einander mit, als blauer Rauch aus dem Fischmaul kam. Diese Worte waren in meinem russischen Reisevokabular enthalten – ich übersetzte sie für Lilo und die Kinder und wieder mussten wir alle lachen.

Als das Streichholz abgebrannt war (und das nächste und das übernächste), da war auch das Interesse an unserem Hause bei den zweien erloschen. Sie trollten sich, ohne einmal zurückzuschauen und ohne einen Blick auf uns Frauen geworfen zu haben.

Es blieb natürlich nicht bei diesen beiden – es kamen andere, noch am gleichen Tag und an den folgenden Tagen. Immer und immer wieder das Schurren und Trampeln von Soldatenstiefeln, das Durchsuchen und Durchstöbern und immer wieder zuerst die vorgehaltene Waffe…

Es kam auch Schlimmes. Wir waren ausgeliefert, wehrlos. Und welchen Sinn hätte es auch gehabt, sich zu wehren? Ebenso wenig wie es Sinn hatte, Türen und Fenster zu verrammeln.

Es waren keine heiteren Tage, die kurze Zeitspanne zwischen dem Zusammenbruch und dem Aufbruch in das neu geschenkte Leben, das wir so mit aller Kraft herbeigesehnt hatten, und das wir jetzt nicht – ganz zuletzt noch – verlieren wollten.

Immer wieder half Vertrauen. Vertrauen haben, Vertrauen zeigen, Vertrauen ermöglichen. Denn sie hatten ja auch Angst und sie wollten, ebenso wie wir, leben. Wenn ihnen in leeren, offenen Händen Vertrauen entgegengebracht wurde, dann konnten sie sich wieder als Menschen fühlen und von daher war es dann oft nicht mehr weit bis zu dem verbindenden Lachen.

Nie wieder hat sich das so einleuchtend abgespielt wie bei dieser allerersten „Feindberührung“ – als es im Bauch des Porzellanfisches kullerte, klingelte und klapperte und wir darüber alle zusammen vor Lachen geschüttelt wurden. Aber ich bin immer dafür dankbar gewesen, dass gerade diese Erfahrung am Anfang stand, weil sie immer wieder half, auch Schlimmes ins Gesamtbild des Menschlichen einzuordnen und so besser damit fertig werden zu können.

Die Kopenhagener Porzellanforelle steht übrigens heute noch auf meinem Bücherbord. Allerdings hat sie schon lange nicht mehr den Ring in ihrem Bauch – der steckt jetzt wieder an meinem Finger.                                   

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Sehr geehrte Frau Elschenbroich,
Ich habe das von Ihnen vorgelesene Dokument Ihrer Mutter gehört und bin beeindruckt! Danke, dass Sie es veröffentlicht haben! Es ist einer dieser großartigen Schätze an Lebenserfahrung, die so kostbar und meistens doch so verborgen sind.
Viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit und herzliche Grüße,
Ihre
Gudrun Melsbach-Kiefer