Jonas Ludwig Walter
"Der Doktor is’ jut im Piken"
Er setzt die Spritzen schön vorsichtig und bekommt zum Dank Schokolade – oder eine Umarmung. Für Amin Ballouz sind seine Patienten wie eine Familie. Und die Uckermärker freuen sich, dass sie einen Landarzt haben
25.04.2014

###mehr-galerien###„Guten Tag, mein Herr, danke für den Aal!“ Amin Ballouz dirigiert den Patienten auf die Liege am Ultraschallgerät. „Bitte, ­bitte“, sagt Herr Happelt. Ballouz will sich mit dem Ultraschall die Blutgefäße am linken Oberschenkel ansehen. „Diese Stelle hier ist eng, mein Herr, ich werde sie in der Gefäßmedizin vorstellen“, sagt der Arzt. Er schaut mit zusammengekniffenen Augen durch die Lesebrille, fährt mit der Sonde auf dem Oberschenkel entlang. Der Patient, ein hagerer Mittsechziger, angelt und räuchert selbst, die Fische verschenkt er, auch an den Doktor. „Das muss operiert werden, ein Stent, dann haben Sie Ruhe.“ – „Deshalb tut mir die Wade weh?“ – „Na klar, da kommt nicht genug Blut durch. Man nennt das Schaufensterkrankheit, weil die Leute beim Spazieren­gehen oft stehen bleiben müssen. Ich melde Sie gleich an im ­Krankenhaus.“ „Danke, Doktor“, sagt Happelt. „Ich bitte Sie, ich bitte Sie.“ Ein Abschiedsgruß, und raus ist er.

Amin Ballouz, 55, weißes Hemd, Nadelstreifenhose, Budapes­ter Schuhe, rote Krawatte, Facharzt für Allgemeinmedizin in Schwedt an der Oder. Das Wartezimmer ist voll, Ballouz eilt mit großen Schritten in den nächsten Behandlungsraum. Zettel, ­Bücher, Mappen liegen auf dem Schreibtisch, in den Regalen stehen Trabimodelle und Fotos seiner vier Kinder, auf den Fensterbänken Orchideen, weiße und rosafarbene Phalaenopsis.

"Zucker in Ordnung, Druck in Ordnung, da gehen wir heute Abend tanzen", ruft Ballouz

Als Nächstes ist die Blutzuckerpatientin Meier dran, Jahrgang 1935. „Ihre Nierenwerte sind super, Langzeitblutzucker super, da bin ich total stolz auf Sie!“ Die Dame lächelt verschämt wie ein Teenager. „Jetzt möchte ich Ihren Blutdruck messen und Ihre schönen Füße angucken. Sie haben doch heute Ihre Füße ge­waschen?“ Ballouz grinst, er weiß, wie er seine Patienten bei Laune hält. Er betrachtet die Füße von jeder Seite, testet mit einer Stimmgabel, ob die Hautnerven der Patientin intakt sind. Sind sie. „Zucker in Ordnung, Druck in Ordnung, da gehen wir heute Abend tanzen“, ruft er.

Das möchte er: mit den Leuten reden, nicht sie hopp, hopp abfertigen. Aber draußen sitzen so viele, es nicht leicht, die Balance zu finden. In Schwedt und Umgebung fehlen statistisch 4,5 Haus­ärzte, im Land Brandenburg fast 60. In den vergangenen fünf ­Jahren haben sich sieben Ärzte aller Fachrichtungen von außerhalb in der Uckermark niedergelassen, Ballouz ist einer von ihnen. Um zwölf Uhr hat er in fünf Stunden 60 Patienten behandelt. An manchen Vormittagen sind es auch 90, 100 Leute; aber heute ist das Wetter schlecht. Hinter seinem Schreibtisch hängt eine große Holzarbeit an der Wand, Zypressen, ein Hirte mit Kühen – eine Erinnerung an den Libanon. Dort ist Amin Ballouz geboren, in Beirut, als Sohn eines Fernmeldeingenieurs und einer Mode­designerin. Amin, das bedeutet der Gewissenhafte.

Herr Ballouz, in seiner Praxis, eine ist in Schwedt und eine kleinere Zweigpraxis in Pinnow
Die Eltern schickten Amin Ballouz und seine fünf Geschwister in jeden Sommerferien arbeiten. Als er zehn war, half er sechs Wochen lang seiner Tante, einer Nuklearmedizinerin, in der ­Praxis. Danach war für ihn klar, dass er Arzt werden würde. Die Mutter musste ihm einen weißen Kittel mit zwei Taschen nähen, alle nannten ihn den kleinen Doktor.

Medizinstudium in Halle an der Saale, Facharzt in Düsseldorf, eine Praxis für Allgemeinmedizin bei Aachen. 2005 dann – Schottland. Aber der viele Regen frustrierte ihn. Eigentlich wollte Ballouz danach nach Berlin. Dort hieß es, man habe genug Haus­ärzte. Die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg (KVBB) sagte, Herr Ballouz, für Schwedt suchen wir Ärzte. Wollen Sie sich die Gegend mal anschauen? Schwedt an der Oder, Uckermark, 100 Kilometer nach Berlin, 50 Kilometer nach Stettin, tolle Landschaft: Seen, Baumalleen, Wälder. Viele Menschen sagen, wenn sie Schwedt hören: Oh. Schwedt steht für Papierfabriken, Raffi­nerie, Plattenbauten. Von 52 000 Einwohnern in den 1980ern leben noch gut 32 000 dort, immer noch verlassen mehr Menschen die Stadt als kommen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 16 Prozent.

"Wenn die Praxis voll ist, dann bin ich zufrieden“

Ballouz schaute. Es gefiel ihm. Er kam wieder. 2010 war das. Die KVBB unterstützte ihn finanziell. Amin Ballouz, das Stethoskop wie ein Schal über die Schultern gelegt, ein kleiner, energischer Mann, führt heute zwei Praxen für Allgemeinmedizin in der Uckermark, eine in Schwedt, eine kleine Zweigpraxis in Pinnow, 15 Kilometer entfernt.

In der Mittagspause stehen Hausbesuche an, drei Stunden hat er dafür. Ein Kaffee im Stehen, dann kontrolliert er den Inhalt seiner schwarzen Arzttasche. „Wie fahre ich am besten?“, fragt er seine Auszubildende Bianca. Die vielen Plattenbauten, alles sieht gleich aus, da verfährt man sich schnell. Auf dem Plan ­stehen drei Patienten in Schwedt, drei außerhalb. Lohnend ist das nicht, 32 Euro kann er berechnen für einen Patientenbesuch mit Wegepauschale innerhalb eines Radius von zehn Kilometern. Man muss dafür brennen: „Wenn ich meine Menschen hier sehe, meine Herde, wenn die Praxis voll ist, dann bin ich zufrieden.“

Der erste Hausbesuch ist bei Frau Schwendemann. Sie ist ­Diabetikerin und hat Durchblutungsstörungen an den Beinen; es drohen Wunden, die nicht mehr heilen. Sie sitzt im Sessel, Bal­louz geht in die Hocke, um mit ihr zu sprechen. Ihr Gewicht will sie nicht verraten. „Sagen Sie mir nur, ob es mehr oder weniger geworden ist“, bittet er sie. „Mehr.“ Sie muss besser auf ihre Ernährung achten. Keine Marmelade, kein Kuchen, keine Süßigkeiten. Dann gibt sie dem Doktor Schokolade, „bitte, nehmen Sie, Sie müssen uns doch noch möglichst lange erhalten bleiben“.

Es gibt wenige Menschen in der Uckermark, dafür viele ­Kraniche, Biber, Rehe. Seine Kinder sagen, Natur, das sei gut für Papa. Amin Ballouz lebt allein. Die Tochter und die drei Söhne studieren in München, Den Haag, Zwickau, Aachen. Für junge Leute sei das hier nichts, meint Ballouz. Zu wenig Kultur, zu langweilig. Auch ein Grund, warum Ärzte sich ungern auf dem Land niederlassen: schlechte Infrastruktur. Wenn ihm selbst die Stadt fehlt, fährt Ballouz 45 Minuten über die Grenze nach Stettin. Dort hat er ein Restaurant entdeckt, eine syrische Flüchtlingsfamilie hat es eröffnet. Ballouz liebt ihr Essen, Lammkeule mit Couscous, Falafel, Taboulé, es erinnert ihn an früher.

Mit 17 floh Amin Ballouz aus dem Libanon

Als Amin Ballouz 16 war, kam der Krieg nach Beirut. Christen und Muslime bekämpften einander. Seine Familie war bedroht, Ballouz’ Mutter ist Muslima, der Vater Christ. Man zog ein paarmal um, in weniger gefährliche Gegenden der Stadt. Der junge Ballouz half Verletzten, sah abgetrennte Gliedmaßen. Sein Lehrer starb bei einem Bombenangriff. „Wir waren so jung“, sagt er, „wir wurden um unsere Jugend betrogen.“ Ballouz’ Vater kannte viele Menschen außerhalb des Libanon, zu ihnen schickte er ­seine ­Kinder – er wollte verhindern, dass die Söhne zum Militär mussten. Mit 17 verließ Amin Ballouz seine Familie, mit dem Rat seiner Mutter: „Wenn du mit Menschen sprichst, denke immer daran, dass sie besser sind als du.“

Er floh nach Syrien, dort machte er sein Abitur; weiter nach Ägypten, dann nach Deutschland. „Ich flog nach Berlin, 1976. Und fragte mich, wo denn die Mercedes sind.“ Stattdessen ­fuhren dort Trabis. Er war in Ost-Berlin gelandet. Seine Geschwister lebten fortan in Italien, Belgien, England, Saudi-Arabien, die ­Familie war für immer auseinandergerissen.

Ein Salut am Patientenbett
Amin Ballouz hat die Wohnung von Frau Schwendemann mit Schokolade verlassen, er eilt zum Fahrstuhl, „ich habe lange gebraucht, mich in diesen Häusern zurechtzufinden. So viele Türen, so viele Flure.“ Er springt in sein Auto, einen Trabi, hellgrau, 601 S  de Luxe, biegt ein paarmal ab, ein anderer Plattenbau, dritter Stock, hier wohnt ein älteres Ehepaar. „Der General hat schlechte Laune“, warnt die Frau, sie meint ihren Mann. „Herr Doktor“, sagt sie, „ich habe solche Schmerzen in der Schulter, können Sie mir was spritzen? Dem General darf ich das nicht sagen, Schmerzen hat nur er.“ Sie bekommt eine Spritze, „der Doktor ist in Ordnung, der is’ jut im Piken“, sagt sie mit weichem Uckermärker Zungenschlag. Ein Gegensatz zum harten Akzent des Arztes, er rollt das R. Ballouz geht ins Schlafzimmer, wo der General ruht. Er hat eine Wunde, die schlecht heilt. „Guten Tag, Herr General, wie geht es?“ Ballouz hebt die Hand zur Schläfe, salutiert. „Hand runter“, brummt der General, ja, der Wunde gehe es besser. Nein, er wolle sie jetzt nicht zeigen. Ballouz will morgen wieder vorbeischauen. Weiter geht es, drei Stunden sind knapp.

Aber zehn Minuten Pause müssen sein: Bei Herrn und Frau Weiß bekommt er einen Kaffee. Er holt braun-weiße Pantoffeln aus einer Ecke im Flur und zieht sie an. Ballouz hat drei Trabis, Herr Weiß repariert sie; einen Trabi-Kombi hat der Freund umgebaut zum Pick-up. Ballouz ist nicht nur Trabifan, sondern auch Jäger, so kann er das Wild transportieren, das er geschossen hat. Die Jagd, das ist Ballouz’ selbst verordnete Entspannung. Nicht immer schießt er, manchmal schaut er nur das Rotwild an, das durch den Wald zieht, die Sauen oder einen Dachs.

Er gibt den Leuten, was sie brauchen, und sie geben ihm, was er braucht

Hausbesuch nie ohne Kaffee und Kuchen
Neue Heimat hin oder her, nicht alles lief reibungslos für Amin Ballouz in der Uckermark: Seine erste Zweigpraxis hatte er in Gartz, 20 Kilometer entfernt von Schwedt. 2012 wollte die Wohnungsverwaltung die Miete erhöhen von 700 auf 1000 Euro. Zu viel für den Arzt. „Man sagte, entweder Sie zahlen oder Sie gehen. Das war mir widerlich“, sagt er, die Verhandlungen um Miet­minderung scheiterten. Er schloss die Praxis von einem Tag auf den nächsten. Manche Patienten waren enttäuscht. Ein Skandal, der bis vor die Ärztekammer ging.

Die Gartzer Patienten, die nicht mobil sind, besucht er seitdem. Frau Kistel zum Beispiel, sie wartet schon. Sie ist die einzige Patientin in der Geschichte, die mit ihrem richtigen Namen vorkommt. Amin Ballouz begrüßt sie mit Handkuss, sie fällt ihm um den Hals, eine fröhliche 76-Jährige im blauen Kittelschurz. „Mein Blutzucker ist bei 5,2“, sagt sie, noch bevor er die Jacke ausgezogen hat. „Super, da ist ihrer besser als meiner.“ Sie war seine erste Patientin in der Gartzer Praxis, darauf ist sie stolz. Blutdruck messen, Blut abnehmen. „Bleiben Sie ein Stündchen und unterhalten mich?“, fragt sie. Die alte Dame lässt sich auf einem Sessel mit Schonbezug nieder und beginnt, Walnüsse zu knacken. Und dann sitzen sie da, essen Nüsse, und Amin Ballouz lässt sich ein bisschen bemuttern. Er gibt den Leuten, was sie brauchen, und sie geben ihm, was er braucht.

Spätabends fährt ihn der Trabbi heim
Es sind nur zehn Minuten geworden, Amin Ballouz muss weiter. Bevor er aufbricht, fragt Frau Kistel: „Mögen Sie eigentlich Schokolade?“ – „Immer.“ – „Ich habe etwas Feines, die Tafel hat mir meine Enkelin geschenkt.“ Sie holt sie andächtig aus dem Schrank, bricht ihm ein Stückchen ab, eines legt sie für sich hin; den Rest faltet sie wieder ins Papier und legt ihn zurück. „Das liebe ich an den Leuten hier“, sagt Ballouz später. Man habe wenig, teile viel und helfe einander. „Sie sind solidarischer miteinander als in Westdeutschland. Geld verdirbt den Menschen.“

Rein in den Trabi, das Auto rumpelt über Kopfsteinpflaster. Am Straßenrand steht eine Frau, sie winkt. Der Landarzttrabi. Aussteigen, klingeln, Treppe hoch. Herr Keller braucht zwei Minuten, ehe er die Tür öffnet, er ist 91 Jahre alt. Auch hier muss Ballouz Blut abnehmen. „Klappt das mit dem Essen, Herr Keller?“, fragt er. „Oh, das schmeckt wie Schuhsohle“, sagt der Alte. Essen auf Rädern. Keller war Soldat im Krieg. „Die Russen kamen von da hinten“, sagt er und zeigt Richtung Osten; sein Dorf liegt nahe der Oder. „Meine Kompanie hatte 120 Leute, am Ende nur noch 20.“ Ballouz hört den Leuten gerne zu. „Ich habe allerhand erlebt“, sagt Keller. „Ich auch“, sagt Ballouz, „deswegen verstehen wir uns.“

Ballouz fährt bei jedem Wetter, auch bei Schnee und Eis

Amin Ballouz ist Pazifist. Beirut habe ausgesehen wie Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg, sagt er. Seine Familie habe ihr Haus verlassen nur mit Tüten und Taschen. „Mein Fahrrad, meine Bälle, alles habe ich zurückgelassen. Mir wurde das Recht auf ein friedliches Leben genommen. In meiner Schulklasse waren 28 Kinder, 17 davon sind ums Leben gekommen.“

Da ist es in Schwedt friedlicher, wenn auch nicht sicher. 2011 hat der Ausländerbeauftragte Ibraimo Alberto, ein gebürtiger Mosambikaner, sein Amt niedergelegt und die Stadt verlassen. Rassistische Anfeindungen hat Amin Ballouz nicht erlebt. „Wer mir guten Tag sagt, dem sage ich auch guten Tag. Und wer mir nicht guten Tag sagt, dem sage ich trotzdem guten Tag.“

Gegen 19 Uhr schaut er noch nach Frau Fiedler, sie ist Mitte 60, es geht ihr sehr schlecht. Darmkrebs. Amin Ballouz kommt nach zwanzig Minuten wieder heraus, er sieht fahl aus. „Ihre Nieren arbeiten nicht mehr“, sagt er, sie wird in den nächsten Stunden sterben. Ihr Mann und die Kinder sind bei ihr.

In der Uckermarck unterwegs
Ballouz fährt bei jedem Wetter, auch bei Schnee und Eis. Wenn er selbst im Graben landet? „Dann habe ich hoffentlich Handyempfang.“ Er ist unermüdlich. In Schwedt hat er eine Gruppe von Hausärzten gegründet, organisiert Vorträge, Weiterbildungen. Amin Ballouz vermisst seine Kinder, aber dass eine Familie für immer am selben Ort lebt, kennt er nicht. „Die Menschen hier sind wie meine Familie.“ Vielleicht arbeitet er deshalb so viel, da kommt man nicht so ins Grübeln.

Um halb elf abends ruft er noch mal bei den Fiedlers an, der Zustand der sterbenskranken Mutter ist unverändert. „Ihr Lieben“, ruft er ins Handy, „wenn sie krampft oder es ihr anders schlechtgeht, meldet euch. Ich komme dann.“

"Für mich ist der Doktor ein Fünfer im Lotto", sagt die Patientin

Die Nacht bleibt ruhig. Um sieben Uhr am nächsten Morgen öffnet er seine Praxis in Schwedt, diesmal nur vormittags. Frau Heinrich hat Schmerzen im Oberbauch, Ballouz macht einen Ultraschall. „Meine Dame, Sie haben einen Riesengallenstein, es tut sicher sehr weh. Ich überweise Sie ins Krankenhaus, Sie müssen heute oder morgen operiert werden. Zeigen Sie mir den Stein, wenn er raus ist.“ Noch eine Spritze mit Schmerzmittel, dann die nächste Patientin. Die hat im Morgenmantel den Hof gefegt und sich einen Hexenschuss geholt. Zwei Spritzen, eine gegen Verspannung, eine gegen Schmerzen. „Für mich ist der Doktor ein Fünfer im Lotto“, sagt sie, „er bietet alternative Heilmethoden an.“ Bioresonanz, Akupunktur, so etwas. Der „Fünfer“: ein Lob, der Höchstgewinn – zu DDR-Zeiten gab es die Lotterie „Fünf aus 35“.

Die Uckermärker sind bedächtige Leute, nicht alle kommen mit dem sprudelnden Temperament des Amin Ballouz zurecht. Und manchmal verzweifelt er an ihnen. Wenn er das Gefühl hat, dass ein Jugendlicher simuliert, um einen Krankenschein zu be­kommen. Oder wenn jemand ihn zum Hausbesuch bestellt – und zu faul ist, ihn in der Praxis aufzusuchen.

Armin Ballouz hat noch so Einiges vor, aber jetzt ist erstmal Feierabend
Mittwoch- und freitagnachmittags und samstagvormittags hält er Sprechstunde in Pinnow, 15 Kilometer entfernt. Die Gemeinde ist froh, dass sie Ballouz gewinnen konnte, seine Zweigpraxis hier zu eröffnen. Dafür zahlt er nur einen Euro Miete pro Quadratmeter. Ein alter Gutshof, zwei Behandlungsräume, Wartezimmer mit Rezeption, schön saniert. Auch hier stehen Trabi­modelle auf der Fensterbank und Fotos seiner Kinder. 20 Patienten sitzen schon im Wartezimmer, als Ballouz eintrifft, das mobile Ultraschallgerät und seine Arzttasche im Gepäck. Impfungen, Lungenfunktionstest, Magenschmerzen. Einem Patienten schließt er ein Gerät fürs Langzeit-EKG an, dann das Problem: Patientin Müller im Nachbarraum hätte auch eines ­haben sollen. Oje. Amin Ballouz holt tief Luft, tritt ein. „Guten Tag, meine Dame, nun kriege ich die rote Karte.“ Sie ist sauer. „Ich habe beide Geräte schon vergeben.“ Ballouz beißt die Zähne aufeinander. „Mein Vorschlag: Dienstag, 6.30 Uhr, schließen wir es an, am Mittwoch um 15.00 Uhr nehmen wir es ab.“ Er schaut sie erwartungsvoll an. „Na gut“, sagt sie schließlich, „aber Dienstag bringe ich eine rote Karte mit!“

Wieder rüber ins andere Zimmer. Dort sitzen Nadine, dreizehneinhalb, ein forsches Mädchen, und ihr Vater. „Wir haben zwei Stunden gewartet“, sagt sie. „Dann legen wir schnell los“, ­Ballouz macht einen Ultraschall des Herzens. Das Mädchen hat eine Pulmonalklappeninsuffizienz, einen Herzfehler, der zu Atemnot führt und Schlappheit. „Etwas Einzigartiges“, sagt Ballouz. Der Arzt schallt gründlich, sieht ein gesundes Herz. „Das hat sich wohl verwachsen“, sagt er. „Kann das wiederkommen?“, fragt das ­Mädchen. „Nein, wenn es einmal zugewachsen ist, ist es zu.“ ­Nadine strahlt ihren Vater an. „Jetzt bin ich nicht mehr einzigartig!“

In einer Ecke des Behandlungszimmers steht eine Staffelei, darauf der Druck eines Holzschnitts von 1982: eine Muslima, die sich ihren Tschador auszieht, ihre Traditionen abstreifen will, wie Ballouz erklärt. Das war lange sein Thema als Künstler: wie Religion die Menschen einengt. Überall in seinen Praxen hängen seine Kunstwerke, so hat er seine Kriegserlebnisse verarbeitet. Düstere Holzschnitte in Schwarz-Weiß, sie heißen „Gerechtigkeit“, „Der ­Teufel und der Verrat“, „Verborgenheit“. Jedes Jahr zu Weihnachten hat er einen angefertigt, aus Birnen- oder Lindenholz, „da kann man so richtig seine Wut reinhauen“, sagt er, „ganz tiefe Gedanken“.

Gerade hat er einen alten Bauernhof gekauft

Aber da hängen auch andere Bilder, bunt, gemalt mit Ölkreide, überall die Jahreszahl 2012, Kraniche im Abendrot, im Morgenrot, ein Wald. Was ist geschehen? „Es ging mir besser“, sagt er. Er hat in der Uckermark ein Zuhause gefunden, gerade hat er einen Bauernhof von 1930 gekauft. Sein Bruder, der Architekt ist und in Italien lebt, hilft beim Sanieren. „Ich habe noch nie ein Haus besessen“, sagt Ballouz, „ich war überall auf der Durchreise.“

Um 18 Uhr geht der letzte Patient. Feierabend? Nein. Amin ­Ballouz hat einen Anruf bekommen von Familie Fiedler. Die krebskranke Frau, die im Sterben liegt, quält sich so. Amin Bal­louz hält an der Tankstelle an, der Trabi braucht Kraftstoff. Ballouz auch. Er ist unruhig, kauft Schokolade, Traube-Nuss, er isst schnell eine ganze Tafel, Nervennahrung. 30 Kilometer Strecke, auf der Landstraße kann man nur 70, 80 Kilometer in der Stunde fahren, nun will er schnell bei ihr sein, er hofft, er kann ihr noch helfen.

Er hat es rechtzeitig geschafft, eine Stunde nach seiner Ankunft ist sie friedlich eingeschlafen. „Die ganze Familie war um sie“, sagt Amin Ballouz, „der Ehemann, Kinder, Enkelkinder, sie haben es toll gemacht, die Frau war mitten im Leben.“ Er ist froh, dass sie es so gut geschafft hat. Und traurig. „Ich bin Arzt geworden, um zu heilen. Aber manchmal sterben die Menschen doch. Das ist nicht leicht für mich. Wo sie jetzt wohl ist?“, fragt er in die Dunkelheit. „Das kann doch nicht vorbei sein. Auch Atheisten müssen doch denken, dass danach etwas kommt, oder?“ Amin Ballouz hat seinen Glauben im Krieg verloren; manchmal flackert er wieder auf.

Es ist spät geworden, Ballouz hat Hunger. Noch etwas essen, dann heim. Vielleicht noch malen. Er malt nur nachts. Um vier in der Frühe wird er wieder aufstehen, die Wege in der Uckermark sind weit. Vor sieben Uhr wird er in Gartz sein müssen, Blut abnehmen. Der Trabi holpert über die engen Sträßchen, langsam nun, es eilt ja nicht. Sein Kennzeichen ist UM  DR  100. „Das heißt“, sagt Amin Ballouz, „dass ich zu 100 Prozent Doktor bin.“ ­Aber vielleicht ist er ja auch zu 100 Prozent angekommen.

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Die Welt ist kurios und mit meinem beschränkten Dasein allein nicht zu begreifen. Deshalb danke ich Gott, dass er mich dennoch alles das erkennen lässt. Was kann es schöneres geben, als einen echten Freund gewonnen zu haben, ohne mich selbst aufwerten zu müssen ?

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Der Doktor malt! Ein sympathischer Mensch. Jeder Mensch kann malen und ist ein Künstler. Das weiß jedes Kind. Das Malen hilft, innere Konflikte zu bewältigen, das ästhetische Empfinden herauszubilden, Schönheit auszudrücken. Was sagt Ricarda Huch dazu ( 1864- 1947 ) ?
"Was Luther vom Dichter unterscheidet, ist nur das, dass er niemals absichtlich gestaltet, es kam ihm nur auf Wahrheit , nie auf Schönheit an. Zwar sind seine Werke überreich an Schönheit, aber nur an zufälliger; er schüttet Edelsteine, Gold und Perlen aus unerschöpflichem Füllhorn, aber ein Geschmeide macht er nicht daraus. Luther war ganz und gar christlich insofern, als er Dichter nicht Künstler, dass er Genie war; so wie umgekehrt manche Künstler nur Künstler, nicht auch Dichter und darum keine Genies sind. Das gestalten macht den Künstler ´; im allereigentlichsten Sinn gibt es deshalb nach Christus überhaupt keine Kunst mehr; denn in allem, was Form, Gestalt betrifft sind die nachchristlichen Menschen Schüler der Alten, und zwar Schüler, die ihr Vorbild nicht erreichen. Die Beseelung der Form durch die Persönlichkeit ist unser höchstes Ziel und das, was wir an Luther bewundern. (...) Geist zu sein und doch Chaos in sich zu haben, das ist eben das Geheimnis des Genies. " Die weniger schöne Kritik an der Gestalt Luther erspare ich hier dem Leser, wobei es mir auch nur um den Künstler im künstlerischen Menschen geht.

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Warum bekommen die Uckermärker und viele andere deutsche Gemeinden keine neuen Ärzte mehr und die Originale -wie hier geschildert- sterben langsam aus ? Weil sie auf einen simplen Trick ihrer Krankenkassen hereinfallen ! Diese gaukeln ihnen vor , sie seinen auch außerhalb der Klinik krankenversichert. Sind sie aber nicht wirklich. Und das verschweigt auch Ihr Beitrag arglistig: die WAHRE URSACHE der Misere. Die Kranke Kasse kassiert zwar üppige Beiträge, aber eine Rechnung bezahlt sie nur der Klinik. Reicht der Patient eine Rechnung seines Arztes ein, schüttelt der Sachbearbeiter den Kopf und lügt :wir zahlen dem Arzt das alles über die KV Brandenburg. In Wirklichkeit hat die Kranke Kasse die ambulante Versicherung zur KV ausgelagert und zahlt hierfür einen Jahresbeitrag von meisten 0 (Null !), seltener ca. 250 Euro (bei Vollzeitjob). Aus diesem Mini-Beitrag folgt : der Pat. ist nicht real versichert , sondern erhält im Krankheitsfall einmal 10-40 Euro im Vierteljahr pro Arzt. Ein echter Witz, wenn es nicht so schändlich wäre. Statt der von Ihnen propagierten Naturalienbezahlung (Aal, Schokolade) , sollten es die Uckermärker einfach mal mit Ehrlichkeit versuchen: sie verbieten ihrer Krankenkasse, sie zur KV Brandenburg auszulagern und reichen der Kasse ihre Arztrechnung zur Erstattung ein, nach Paragr. 13 , SGB V. Dann bekommen sie auch wieder einen Arzt in die Gemeinde !