Staffan Widstrand/Rewilding Europe
Reif für die Wildnis
Wilde Büffel in den Karpaten, Wölfe in Berlin. Der schwedische Umweltaktivist Staffan Widstrand freut sich über mehr Natur in Europa. Seine Stiftung will eine Million Hektar Land verwildern lassen. Widstrand ist überzeugt, eine neue Ära des Umweltschutzes sei bereits angebrochen
03.01.2014

Herr Widstrand, Sie haben Europas wildeste Ecken bereist und fotografiert. Wie ist unser Kontinent?
Staffan Widstrand: Unglaublich vielfältig und zugleich unbekannt. Wo verbringen die meisten ihren Urlaub? An einem Sandstrand, auf einer Ski­piste oder in einer Stadt. Kennen Sie die ­Rhodopen, waren Sie in den Karpaten, im Donaudelta? Wir kennen den Yellow­stone-Park oder die Serengeti besser als Europa.

Sie wollen uns Europas ursprüngliches Gesicht zeigen. Warum?
Der Mensch hat Sehnsucht nach Wildnis. Wir in Schweden bekommen jedes Jahr Besuch von Holländern und Deutschen. Die wollen Flüsse sehen, die sich ihren eigenen Weg durch die Landschaft suchen. Wenn alles geplant und kontrolliert ist, wird das Leben langweilig. Wildnis ist Drama, Überraschung, Unterschied, Freiheit. Die Rewilding-Bewegung startete übrigens in Holland, einem der bestgeordneten Länder Europas. Jeder Baum ist dort gepflanzt, überall waren Landschaftsarchitekten und Bauern am Werk. Doch den Menschen fehlte etwas. Heute ist das anders, auch dort. Vogelschwärme kommen und ­brüten wieder, wo es lange keine mehr gab. Der Biber ist zurück und sogar der erste Wolf hat sich blicken lassen. Ein Wolf in Holland! Vor zwanzig Jahren wäre das undenkbar gewesen.

Es geht Ihnen also um die Sehnsucht der Menschen nach Unberührtheit.
Nicht nur, diese Sehnsucht ist Teil des Konzeptes. Es geht uns auch darum, all das brach liegende Agrarland in Europa aufzuwerten. Nach Schätzungen der EU werden bis 2030 rund 30 Millionen Hektar Land nicht mehr beackert sein. Das ist sehr viel. Was soll die Gesellschaft damit anstellen? Wir wollen mindes­tens eine Million Hektar der Natur zurückgeben, mal sehen, was passiert. Alle alten Kulturlandschaften künstlich zu erhalten ist aufwendig und sinnlos. Nehmen wir das Stettiner Haff an der deutsch-polnischen Grenze. Es ist vielleicht die ärmste Region Deutschlands. Viele Menschen wandern dort ab. Seit Jahren werden riesige Wiesen mit EU-Subventionen gemäht, damit sie nicht zuwuchern. Das Heu wird in den Wald geworfen. Und das Gelände wurde mit Pumpen trocken gehalten. Warum nicht einfach alles verwildern lassen, warum nicht das alte Sumpfland zu­lassen? Eine mitteleuropäische Moorlandschaft wie sie vielleicht vor tausend Jahren aussah, das wäre fantastisch!

Was halten denn die Anwohner am Stettiner Haff von Ihren Wildnis-­­Visio­nen?
Es geht uns vor allem um sie. Die Leute in diesen Regionen brauchen neue Einkommensquellen, Attraktionen für Touristen, sie brauchen etwas, was sie dort hält. Wilde Landschaften ziehen uns an, sie befriedigen unsere Sehnsucht, inspirieren uns. Wir wollen den Menschen zeigen, wie unser Kontinent eigentlich aussieht. Wir wollen bis 2020 mindestens zehn ursprüngliche Landschaften mit unterschiedlichen Ökosys­temen zurückerobern, als Schaufenster sozusagen. Dort erfahren wir, wie Europa einmal gewesen ist, bevor der Mensch alles radikal veränderte.

"Lassen wir die Natur in Ruhe"

Ein Stück Land verwildern zu lassen heißt also nicht, die Menschen daraus zu vertreiben?
Nein, die Menschen sind dort längst weggezogen. In Spanien zum Beispiel, wo ein Gebiet im Westen zum Netzwerk gehört, sagte uns einer der Bürgermeister: „Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie was!“ Sein Dorf hatte vor 20 Jahren noch 3000 Einwohner, heute leben dort noch 50, alle über 75. Abwanderung ist in sehr vielen Regionen Europas ein großes Problem. Aber man kann es auch als Chance sehen, als Chance für die Natur und für den Menschen. Wenn wir dort ein paar verschwundene Tierarten wieder einführen, vor allem Wildpferde, Wisente, Rotwild und ­wilde Rinder, dann haben wir bald eine ziemlich natürliche Landschaft. Dann kommen auch Raubtiere und ­kleinere Arten zurück, die derzeit massiv verschwinden.

Damit greifen auch Sie in die Natur ein.
Ja, wir brauchen die großen Grasfresser. Früher zogen riesige Herden durch Europa, bis wir sie domestiziert oder ausgerottet haben. Die Wisente haben aus reinem Zufall überlebt, mit genau 13 Exemplaren. Heute gibt es wieder 3000 davon. Sie sind wichtige Schlüssel­arten, neben wilden Pferden und Kühen, denn sie bringen natürliche Prozesse in Gang, schaffen verschiedene Habitate und sorgen so für Artenvielfalt. Ohne sie wächst alles zu und in hundert Jahren ist überall Wald. Natürlich wird es auch mehr Wälder ­geben, aber eben nicht nur.

Auch das Donau Delta in Rumänien soll sich selbst überlassen sein - Foto: Staffan Widstrand

Kann man eine europäische Urlandschaft überhaupt wiederherstellen? Sind nicht alle Landschaften Europas vom Menschen kultiviert worden?
Komplett unberührte Landschaften gibt es kaum noch, der Mensch war praktisch überall, wenn auch nur zum Jagen oder Fischen. Mit Wildnis meinen wir, die Natur in Ruhe zu lassen. In unseren Kerngebieten soll nicht gejagt, nicht gefischt, keine Landwirtschaft betrieben werden. Darum herum wollen wir aber mit Jagd, Fischerei und Naturtourismus neue Einkommensquellen schaffen. Das ist eine neue, viel billigere Form des Naturschutzes. Vielen fällt dieser Gedanke schwer. Naturschützer, die nach alten Mustern denken, sagen uns: Aber wenn wir nicht regulieren, dann wird diese oder jene Art zurück­gehen oder verschwinden. Wir antworten dann: Gut, wenn das der Gang der Natur ist, dann verschwinden sie vielleicht aus diesem Habitat. Wir machen das Gegenteil von dem, was der Mensch seit Jahrtausenden tut: die Natur gestalten und für sich nutzen. Wir werden vom Akteur zum Zuschauer: Wir beobachten, was ohne uns passiert.

Warum renaturieren Sie vor allem Randgebiete und Grenzregionen Europas?
Im Verlauf der Besiedelungsgeschichte wurden diese Regionen als Letzte erobert. Zuerst beackerte man fruchtbaren Boden in zentralen, sicheren Gegenden mit gutem Klima. Wer später kam, musste das nehmen, was übrig war: ­Arme Böden, Gebirge, unsichere Grenzgebiete, abgelegene Täler. Diese zuletzt besiedelten Gebiete sind nun die ersten, die aufgegeben werden. Dort lohnt sich Landwirtschaft nicht mehr. Genau ­dort sind die Menschen nun bereit für unsere radikalen Ideen. Fragen Sie mal einen Bauern in Niedersachsen, ob er seine Felder verwildern lassen möchte. Der versteht gar nicht, wovon Sie sprechen.

"Tiere scheren sich einen Dreck um Theorien"

Dann werden die großen Industrienationen Frankreich, Deutschland oder Großbritannien wohl nie dazu gehören?
In Frankreich hätten wir gerne ein Gebiet. Das Land ist politisch wichtig und hat eine große landschaftliche Vielfalt. Wir haben im Zentralmassiv gesucht und anderswo, aber wir haben noch keine Partnerorganisation gefunden, die unser Konzept des Nichteingreifens umsetzen will. Dort wird immer noch mit teurem Steuergeld erhalten, was keinem mehr nutzt. In Deutschland ist das erwähnte Stettiner Haff nominiert. Ein neues Alaska kann man dort nicht schaffen, es wird immer Stromkabel und Windräder am Horizont geben. Aber die Landschaft ist einmalig. In Großbritannien schließlich haben wir eine Bewerbung aus Schottland. Auch in den Alpen hätten wir gerne ein Gebiet. Dort erkennt man gut, was Europa heute ist: Eine Bühne ohne Schauspieler. Die Alpen bieten uns atem­-berauben­de Landschaften, aber wo sind die Tiere?

Kann man auch Ballungsräume wie das Ruhrgebiet verwildern lassen?
Wir wollen keine Städte evakuieren und tausend Jahre Agrargeschichte zurückdrehen. Wir suchen das Machbare. Tiere scheren sich einen Dreck um Theorien. Sie funktionieren nach zwei Kriterien: Wo bekomme ich was zu fressen, und wo kann ich meine Jungen aufziehen? Es gibt schon einige recht wilde Großstädte. In Berlin leben Wildschweine. Auf dem Big Ben in London nisten Wanderfalken und nachts laufen neuerdings Füchse durch die Straßen. In Brasov in Rumänien leben Wölfe. Nachts laufen sie über den Marktplatz, holen sich ein paar Ratten und verschwinden wieder.

Nachts in der Stadt einem Wolf zu begegnen, das ist doch gefährlich!
Ich sage nicht, dass das perfekt ist. Ich sage nur, es ist möglich. Wenn hier in Stockholm ein Wolf gesichtet würde, riefen die Leute die Polizei an und gingen nicht mehr aus dem Haus. Das ist eine Frage der Einstellung. Europa kann überall ein bisschen wilder werden. ­Alles dreht sich um die Frage: Wie viel Wildnis ertragen wir?

Anscheinend mehr als früher. Warum entsteht diese Verwilderungsbewegung ausgerechnet jetzt?
Im Englischen hat sich die Konnotation von wildness in den letzten 50 Jahren verändert. Früher war alles, was savage oder wild war, schlecht, gefährlich, nutzlos. Alles Gezähmte, Domestizierte war gut. Heute ist das anders. Das hat mit dem wachsenden Umweltbewusstsein der Europäer zu tun. Viele Wildarten kehren zurück. Darauf können wir stolz sein. Brust heraus, nicht immer so depressiv! Die Bürger haben das Natura-2000-Projekt gewählt, sie haben sich für Schutzgebiete ausgesprochen und gegen die Benutzung gefährlicher Chemikalien gestimmt. Wir schützen unser Welterbe, unser Trinkwasser, haben die Jagdgesetze verschärft. Nach 50 Jahren Umweltschutz feiern wir nun erste Erfolge. Jetzt sind wir auch reif für die Wildnis.