Hana Pesut
Weder Mann noch Frau
Damenbart und Männer­busen: Heinz-Jürgen Voß ­erklärt, warum die Einteilung in zwei Geschlechter Schaden anrichtet.
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
09.08.2013

chrismon: Beim Standesamt müssen Eltern intersexueller Babys nicht mehr "weiblich" oder "männlich" ankreuzen. Ist das sinnvoll?

Heinz-Jürgen Voß:

Es geht noch nicht weit genug, weil die Geschlechtsangabe in solchen Fällen offenbleiben muss. Das ist ein Zwangsouting. Besser wäre, neben "männlich" und "weiblich" auch "andere Geschlechter" anzubieten.

Wie viele Geschlechter gibt es denn?

Unzählige. Das Geschlecht wird ja auf vielen Ebenen geprägt: durch Chromosomen, Hormone, Geschlechtsorgane, das Aussehen – und nicht zuletzt die Art, wie ich erzogen werde, mich kleide und mich selbst zuordne. Auf jeder Ebene gibt es verschiedene Ausprägungen. Es trifft die Realität nicht, nur in  "männlich" und "weiblich" einzuteilen.

Heinz-Jürgen Voß

Heinz-Jürgen Voß forscht zu Geschlechtertheorien. Er studierte Biologie, wurde in Sozialwissenschaften promoviert und ist seit 2020 Professor für "Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung" am Institut für Angewandte Sexualwissenschaft in Merseburg.


Ist das der neueste Stand der Forschung?

Bis in die 1920er Jahre sprach man von ­Geschlechtervielfalt. Mit den Nazis kam die Theorie einer weitgehend klaren biologi­schen Zweiteilung, die auch immer noch im Biologiestudium vermittelt wird, obwohl die aktuelle Forschung längst weiter ist. Solche einfachen Thesen machten mich stutzig, und ich erkannte, dass die vermeintlich natür­liche Zweiteilung viel Leid mit sich bringt.

Inwiefern?

Zum einen werden geschlechtlich "untypi­sche" Kinder mit Gewalt in die vermeint­lich natürliche Ordnung eingepasst, mit ­geschlechts­zuweisenden Operationen, Hormonen und zig Arztbesuchen. Zum anderen verfestigt die radikale Zweiteilung nur wieder hierarchische, gewaltsame Strukturen: Gewalt gegen Frauen, Zwangsprostitution, ungleiche Löhne.

Aber können Sie sich wirklich eine Gesellschaft ohne Zweiteilung vorstellen?

Ja. Das Geschlecht hätte einen Stellenwert wie heute das Sternzeichen oder ob ich Tiere mag. Man kann danach fragen, aber es ist nicht wirklich von Bedeutung.  

Sind die Leute außerhalb der Uni empfänglich für solches Denken?

Ich halte viele Vorträge, auch in Jugendclubs und auf dem Kirchentag. Bisher war das Publikum sehr offen und interessiert. Außerdem ergeben sich manchmal interessante Gespräche, wenn ich in E-Mails als Anrede
nicht "Liebe Frau Lucassen" schreibe, sondern "Lieb* Hanna Lucassen". Oder von der "Soziologin Stefan" spreche. Das sind dann kleine Stolpersteine.

Über die in zehn Jahren keiner mehr stolpern wird?

So weit werden wir wohl nicht sein. Aber ich hoffe, dass dann Kinder, die weder Junge noch Mädchen sind, in Ruhe aufwachsen können, ohne gewaltsame geschlechtszuweisende Eingriffe.

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es scheint mir sehr erschreckend, wenn ich mich als "wasauchimmer" Outen muss. Unser zusammenleben scheint durch die Globalisierung immer komplizierter zu werden. Oder liegt es nur daran, dass man als Individuum nicht untergehen will? Dann soll doch lieber die ganze Gesellschaft in ihrer Vielfalt untergehen.
Mein Vorschlag fürs Stammbuch um eine eindeutige vorläufige Eintragung machen zu können:
Pimmel /kein Pimmel
P.S. Die angebliche Vielfalt gab es tatsächlich schon immer. Es sind die persönlichen Vorlieben und Begabungen, die einen Menschen ausmachen, nicht das Geschlecht. Und das sollten wir unbedingt akzeptieren, dann klappt das zusammenleben.