Jakob wurde „Bufdi“ und arbeitet jetzt ein Jahr lang in einer Behindertenwerkstatt, freiwillig. Wie ergeht es einem jungen Abiturienten bei seinen ersten Schritten in der Arbeitswelt?
Heute ist Rüdiger ratlos. Er ist auf dem Stuhl am Tisch mit dem Kanülenkorb zusammengesunken, neben ihm türmen sich Schachteln. „Was ist das?“, murmelt er und starrt auf den Plastikkorb. „Ich zeig’s dir noch mal“, sagt Jakob und legt eine Schachtel vor Rüdiger auf eine Gummimatte, dazu kleine weiße Röhrchen. Es sind zeigefingergroße Kanülen, durch die Zahnärzte Füllungen in die Zahnlöcher spritzen. „Du zählst zehn ab, legst sie in die Schachtel mit den Nasen nach oben, so dass sie schön einrasten. Und wenn du alle zehn drinhast, kannst du die Lasche nach oben drücken.“ Jakob spricht nicht besonders laut oder leise, normal eben. Wüsste man nicht, dass Rüdiger nach einem Herzstillstand sein Kurzzeitgedächtnis weitgehend verloren hat, kaum mehr sprechen kann und im Rollstuhl sitzt, könnte man meinen, Jakob erkläre einem Bekannten die Verpackungsprozedur in der Hygienemontage.
Jakob ist 18 Jahre alt, seit fünf Monaten leistet er seinen Bundesfreiwilligendienst in den Isar-Würm-Lech-Werkstätten für behinderte Menschen (IWL). Früher war hier auf dem Gelände in Machtlfing, einem Dorf im Landkreis Starnberg, ein Bauernhof. Jetzt arbeiten hier 120 Menschen mit psychischer oder geistiger Behinderung; sie verpacken Hygienematerial, löten Elektroteile, bauen Möbel in der Schreinerei. 35 Mitarbeiter – Arbeitserzieher und Meister mit sonderpädagogischer Zusatzausbildung – helfen ihnen dabei. Der Ton ist familiär, alle reden sich mit Vornamen an, also heißt Jakob hier auch nur Jakob, und auch die Menschen, denen er hilft, sind in dieser Geschichte mit Vornamen genannt.
Jakob traf eine „Bauchentscheidung“.
Im Sommer 2012 hatte Jakob sein Abi bestanden und „überhaupt keinen Plan“, wie es weitergehen sollte. Er wusste nur, er hatte die Schule satt. „Ich wollte mir einfach nicht mehr stundenlang irgendwelche Vorträge anhören müssen.“ Der Steuerberater seines Vaters erzählte Jakob von seinem eigenen Sohn, der war „Bufdi“ in der IWL. Bufdi ist die Abkürzung für Menschen, die einen Bundesfreiwilligendienst machen (Infokasten auf Seite 54).
Jakob traf eine „Bauchentscheidung“. In seiner Starnberger Montessori-Grundschule waren immer auch geistig behinderte Mitschüler in der Klasse. „Mit einem war ich gut befreundet. Er war vielleicht geistig nicht so fit, aber er konnte krass gut singen.“ Das unbefangene, kindliche Spiel mit Behinderten – das hat Jakob in guter Erinnerung. Jetzt ist er erwachsen, und in der IWL sind Spiele nicht vorgesehen. Jakob bewegt sich jetzt in der Arbeitswelt, er soll Verantwortung übernehmen, mithelfen, Förderziele zu erreichen, nach einem festgelegten Zeitplan, acht Stunden am Tag. Die Arbeit mit behinderten Menschen ist sein erster Job überhaupt, 220 Euro im Monat Taschengeld bekommt er dafür.
Jakob ist eingeteilt in der Förderstätte der Werkstatt, jeden Morgen ab acht. Hier binden acht schwerstbehinderte Erwachsene Holzstäbchen zu Kaminanzündern oder kleben Gratisproben auf Pappschachteln – ohne feste Arbeitszeiten und Termindruck. Es sind einfache Handgriffe. Wer zur Fördergruppe zählt, kann die Aufgaben in der Hygiene- und Industriemontage weder kontinuierlich noch einigermaßen fehlerfrei bewältigen. Rüdiger könnte es lernen. Er kann lesen und bis zehn zählen – das ist die Voraussetzung, um es mal als Praktikant in der Hygienemontage zu versuchen. Jeden Tag, eine Stunde vor dem Mittagessen, schiebt Jakob Rüdiger im Rollstuhl in die „Lerninsel“; dieser Raum ist nur durch eine Glasscheibe von der Werkstatt getrennt.
Jakob ist ein Meter neunzig groß und gut trainiert. Er kann einen erwachsenen Mann aus dem Rollstuhl auf den Platz am Arbeitstisch hieven. „30, 40 Mal habe ich Rüdiger die Arbeitsschritte mit den Röhrchen schon erklärt.“ Jakob scheint es nichts auszumachen: erst zehn Röhrchen abzählen, dann in die Schachtel hineinsortieren. Rüdiger wirkt angestrengt. Er sieht aus, als krame er in seinem Gedächtnis, das vor seinem Herzstillstand so fehlerfrei funktioniert hatte. Ehrgeiz flammt auf in seinen Augen, Er will es diesmal richtig machen. Beim nächsten Versuch hält er die Reihenfolge ein. Er fingert zehn Kanülen aus dem Korb. Jakob lächelt. Nur wenn Rüdiger wieder fragt: „Was ist das?“, ist Jakob doch „erstaunt“, auch „geschockt“, das muss er zugeben.
Mittags ist der Zeitplan für Jakob eng getaktet
Geduld und Ausdauer, das kann Jakob in der IWL schon mal für seinen späteren Beruf einüben. Ob es eine Arbeit mit behinderten Menschen sein wird, weiß er noch nicht. Er interessiert sich nicht nur für das „Pflegerische“. Die IWL hat verschiedene Betriebszweige, Logistik könnte auch was sein. Vielleicht etwas mit Betriebswirtschaft? Jakob weiß es nicht. Er will von diesem Jahr „möglichst viel mitnehmen“.
Tamara hat es von der Fördergruppe in die Werkstatt geschafft. Sie verdient nun 240 Euro im Monat. Tamara war immer ganz versessen auf Schmuck“, sagt Jakob. So ein Aufstieg ist selten und wertvoll. Jakob erlebt die Fortschritte mit – Arabella ist auch so ein Beispiel, wenn sie Münzen aus ihrem Brustbeutel holt und ihren Kaffee selbst bezahlt. Arabella hat ein Downsyndrom, sie ist schwerhörig, kann nicht sprechen und leidet unter Epilepsie. Noch vor kurzem hat sie sich geweigert, selbst ihr Geld einzustecken. Und jetzt holt sie sich ihren Kaffee selbst!
Als Bufdi ist Jakob eine ungelernte Hilfskraft. Was Arabellas und Rüdigers Krankenakten über Therapien, Medikamente und Klinikaufenthalte verraten, erfährt er nicht. Für seine Arbeit hat er auch keinen Einführungskurs besucht. Er ist einfach hineingewachsen. Von Anfang an blieb die Art und Weise des Umgangs mit der Fördergruppe ihm überlassen. Ideen wie die mit dem Brustbeutel schaut er sich von den Betreuern ab. Wenn Arabella einen epileptischen Anfall bekommt, weiß er, was er tun muss. Das haben ihm die Betreuer beigebracht.
Mittags ist der Zeitplan für Jakob eng getaktet. Er muss Rüdiger auf der Toilette assistieren, die Fördergruppe aus ihrem Aufenthaltsraum zur Kantine begleiten, bevor sich lange Schlangen vor der Essensausgabe bilden.
Am Tisch führt Jan das Wort. Der 26-Jährige kann als Einziger in der Gruppe deutliche, zusammenhängende Sätze sprechen. Jan ist eine Art Klassenclown. „Ich bin begeistert!“, das ruft er gern in die Runde, wenn Karla mit Mühe „Ja“ oder „Nein“ nuschelt. Irgendwann soll Jan auch mal ans Telefon gehen. Noch hat er Angst. „Immer wenn das Telefon klingelt, springt er in die nächste Ecke“, sagt Jakob. Mit Ermahnungen hält er sich zurück. Wenn Betreuerin Angelika Rühl Jan während des Essens mehrmals auffordert, fremde Leute zu siezen, mischt sich Jakob nicht ein. Er wägt ab, damit sein Verhalten dem ihren nicht widerspricht. Die berufliche Erfahrung der Betreuerin hat er nicht. Er macht das, wie er sagt, „auf meine Art“.
Grenze der Belastbarkeit
Um halb eins füllt sich die Kantine mit den Beschäftigten der Werkstätten, Jans Kommentare gehen im allgemeinen Stimmengewirr unter. Am Nebentisch hebt jemand seine Trinkflasche mit Mundstück, Jakob zum Gruß. Er ist es, der an seinem ersten Tag in der IWL auf Jakob zugegangen war und ihm gleich den Rücken getätschelt hatte. „Ich stand wie versteinert da, mir war das peinlich. Aber ich spürte auch so eine Offenheit, die ich vorher nicht kannte.“
Auch wenn er jemanden mag, kann Jakob an die Grenze seiner Belastbarkeit stoßen. So erging es ihm mit Ronald aus der Fördergruppe. Der junge Mann sitzt im Rollstuhl, die Glieder verkrampft zu grotesken Formen, der Gesichtsausdruck ist zu einem starren Lächeln eingefroren. Sein Gemütszustand ist schwierig einzuschätzen. Jedes Mal, wenn Jakob ihn zur Toilette begleitete, fing Ronald an zu schreien. „Das habe ich nicht gepackt.“ Gibt es ein Problem, sind die Betreuer Angelika Rühl, Christoph Heinle oder Monika Pänzinger da. Mit Ramona hat sich Jakob arrangiert, nach Startschwierigkeiten. „Ich weiß noch, sie blieb auf einmal stehen. Ich habe ihr einen kleinen Schubs gegeben, und plötzlich fing sie an, mich wüst zu beschimpfen und zu beleidigen.“ Ein Betreuer kam und habe Ramona mit Späßen abgelenkt, das hat geholfen, die Situation zu entspannen. Inzwischen kennt Jakob Ramona besser: „Ramona ist eben Ramona.“
Nach dem Mittagessen ist der Arbeitstag für die Fördergruppe beendet. Wer will, kann noch ein paar Gratisproben kleben. Jakob verlässt den Container, in dem der Raum der Fördergruppe untergebracht ist. Er will Ronalds Sprachcomputer neu betexten. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand berührt Ronald Symbole auf einem Tableau. Dann ertönt eine Stimme, die „Ja“, „Nein“ oder „Ich habe Durst“ sagt.
Ab vier Uhr nachmittags stehen die Kleinbusse bereit, um die Beschäftigten zurück in ihre Wohnheime und Elternhäuser zu bringen. Jakob hilft, Ronald samt Rollstuhl in einen Bus zu tragen. Dann fährt er mit einem Betreuer im Auto nach Starnberg. Er wohnt noch bei seinen Eltern.