Musiktipps April 2025
Zwischenfazit
Drei Frauen blicken auf ihr Leben - ihre Beziehungen, ihre Stationen und das, was kommt. Das tun sie musikalisch. Und sehr unterschiedlich
Musiktipps April - Zwischenfazit
pr
Tim Wegner
10.04.2025
3Min

Als sie 14 Jahre alt war, sagte ihr der behandelnde Arzt, dass sie womöglich nie in der Lage sein werde, einen nine-to-five-job durchzuhalten. Die Frau aus dem Londoner Stadtteil Hackney mit dem eisigen und genderbiegenden Künstlernamen John Glacier leidet nämlich an der chronischen Bindegewebsstörung Ehlers-Danlos. In den Zeiten, in denen sie tagelang im Bett liegen musste, unfähig, sich zu bewegen, flüchtete sie sich in Welten aus Worten. Sie las und sie schrieb.

Heute ist sie eine gefeierte Musikerin, Dichterin, aber auch Fashion-Model für große Modemarken wie Burberry, Gucci oder Louis Vuitton. In ihrer Musik pflegt der Spross einer aus Jamaika stammenden Familie einen fließenden Sprechgesang, eine nuschelnde Rap-Variante, die wiederholt mit Notizen, die man in ein Diktiergerät spricht, verglichen wird. Ihre Texte sind meist alltägliche, tagebuchartige Beobachtungen, die sie auf futuristischen Beats und anspruchsvoll produzierten, teilweise herausfordernden Backingtracks fast beiläufig präsentiert.

Der Albumtitel "Like A Ribbon" bezieht sich dabei auf die nahtlos ineinander übergehenden Fäden von Beziehungen und Verantwortlichkeiten, die die Schleifen einer Existenz in unserer modernen Gegenwart bilden. Die Geschichten, die John Glacier auf diesem Album erzählt, sind so eine Momentaufnahme ihres Lebens.

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Am Ende eines Lebensabschnitts

Die deutsch-finnische Singer/Songwriterin Anna Hauss thematisiert auf ihrem neuen Album "Unknown Waters" einen ganz ähnlichen Status: "It’s okay to swim a little before getting to new ground." Wenn ein Lebensabschnitt zu Ende geht und ein anderer beginnt, ist das oft eine Momentaufnahme. Und die ist selten von Sicherheit und klaren Perspektiven, sondern meist von Ungewissheiten und Kontrollverlust geprägt. "Unbekannte Gewässer" eben. Und dann braucht es den Mut, ins kalte Wasser zu springen und sich freizuschwimmen.

Das tut Anna Hauss mit diesem Album nicht nur inhaltlich, sondern auch buchstäblich: Mit melancholisch perlenden Gitarren taucht sie tief ein in emotionale Untiefen und singt vom Abwarten, Zweifeln und Loslassen. Alle Songs hat sie selbst geschrieben, selbst mitproduziert. Es geht in ihnen um Beziehungen aller Art, um das Zurückziehen, aber auch um die Neugier auf Neues. Und man schwimmt nur zu gerne mit in den schmeichelnden, fließenden Melodien. Und freut sich am Ende mit Anna Hauss über eine zaghafte, neue Offenheit und den Blick nach vorne: "I’m opening up a little more. And it feels new."

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Ein Liederbuch als Momentaufnahme

Die Berlinerin Masha Qrella blickt bereits auf eine lange und vielseitige Musikerinnen-Laufbahn zurück. Darunter fallen Bandprojekte wie das verträumt experimentelle Instrumental-Quartett Contriva oder die jüngste Zusammenarbeit mit Julia Kliemann als "Halo". Aber auch Dinge wie die Vertonung von Gedichten des Autors Thomas Brasch, die Produktion von Hörspielen wie den Bremer Stadtmusikanten oder diverse Filmmusiken hat die umtriebige Komponistin, Musikerin und Sängerin zuletzt umgesetzt.

Nun zieht auch sie ein Zwischenfazit in Form einer Momentaufnahme – und zwar mit einem "Liederbuch". "Songbook" heißt ihr neues Album und es besteht aus Stücken, die einen besonderen Anknüpfungspunkt oder eine spezielle Bedeutung für sie haben. Da sind Coverversionen dabei, von Weltstars wie Queen, aber auch von weniger bekannten, dafür umso inniger verehrten Bands wie Saint Etienne. Aber es gibt auch Stücke, die mal für einen Fernsehfilm geschrieben wurden, dann aber doch nicht in der Produktion landeten oder solche, die beim Herumspielen im Studio quasi "nebenbei" entstanden. Aber zu jedem Song hat Masha Qrella eine Geschichte zu erzählen.

Und das tut sie zu wunderbar leichtfüßigem, aber nie langweiligem Elektropop mit kammermusikalischem Anstrich (früher nannte man so etwas mal "Indietronica"). Damit nimmt auch sie die scheinbar losen Fäden ihres bisherigen Lebens auf und verwebt sie geradezu mühelos zu einem stimmigen, spannenden Ganzen – mit der Verheißung auf mehr. Und ganz nebenbei präsentiert sie die wohl gelungenste Coverversion aller Zeiten von Whitney Houstons "I Wanna Dance With Somebody". Vermutlich war das Stück eigentlich immer genau so gemeint, wie es bei Masha Qrella klingt.

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Produktinfo

John Glacier: Like A Ribbon. Young

Anna Hauss: Unknown Waters. A. Hauss Music

Masha Qrella: Songbook. Staatsakt

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