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Eine Frau mit langem, hellblondem Haar und einem Lächeln im Gesicht spaziert entspannt mit einem Baby auf dem Arm durch einen verwunschen wirkenden Wald. Die Bäume glänzen in einem wohltuenden, satten Grün. Fast dringt der Geruch von Moos in unsere Nasen. Mutter und Kind treffen auf ein wildes Pferd und streicheln es, später schöpft sie versonnen mit bloßen Händen klares Wasser aus einem Fluss.
Das Ganze hätte etwas Idyllisches, geradezu Kitschiges - trügen nicht sowohl das Pferd als auch die Frau blutige Kratzer im Gesicht. Unheimlich wirken auch die süßlichen Töne von "Little April Shower", dargeboten vom Disney Studio Chor, die die Sequenz begleiten. Das ist exakt der Song, der läuft, als das Rehkitz Bambi im gleichnamigen Disney-Klassiker unbeschwert mit seiner Mutter im Wald spielt.
"Die My Love" wird seit seiner Premiere im Wettbewerb von Cannes seltsamerweise als Film über postnatale Depression beschrieben. Dabei ist die geschilderte Szene exemplarisch: Wenn Mutter Grace (Jennifer Lawrence) mit einer Sache kein Problem hat, dann mit der Bindung zu ihrem Sohn. Aber Grace ist nicht allein im Universum. Auch wenn sie sich so fühlt, wie sie es ihrem Partner Jackson (Robert Pattinson) eines Nachts verrät, als der fasziniert durch ein Teleskop den Sternenhimmel bewundert. Während er Trost darin findet, Teil von etwas Größerem zu sein, vermag sie nur Leere zu entdecken.
Die Geschichte des Films ist an einigen Stellen achronologisch und in Rückblenden erzählt, die nicht immer klar als solche verortet sind: Eben ist Grace noch mitten in der Nacht ekstatisch und nackt mit Jackson durchs Wohnzimmer getanzt, schon sitzt sie hochschwanger am Esstisch mit seiner Familie und fragt sich, was das alles soll. Später, als ihr Sohn geboren ist, arbeitet Jackson auf Montage, und Grace wird in der ruralen Einöde ihres Zuhauses immer unzufriedener.
Der Alltag frustriert sie ebenso wie die Tatsache, dass es mit dem Sex nicht mehr so richtig klappen will und sie ständig beim Masturbieren gestört wird. In ihren trotzigen und halbherzigen Versuchen, soziale Interaktion mit anderen Menschen zu pflegen, ist die Konfrontation mit Normen des höflich-oberflächlichen Umgangs einkalkuliert. Ihre Sehnsucht nach Freiheit, sexueller Befriedigung und einem anderen Leben als dem, in das sie da geraten ist, schwillt immer weiter an. Bis Grace explodiert.
Ist sie die Sympathieträgerin des Films? Auf keinen Fall. Hat sie ein nicht näher diagnostiziertes psychisches Problem? Absolut. Sind manche ihrer Handlungen als Mutter fraglich? Vermutlich. Aber die Art, wie diese Grace in allem too much ist und den traditionellen Ehefrauen dieser Welt mutig den Mittelfinger zeigt, machen sie zu einer der interessantesten Frauenfiguren des Kinojahres.
Die schottische Filmemacherin Lynne Ramsay ist mit ihrem fünften Langfilm ein hohes Risiko eingegangen. Von ihr selbst 2017 als Komödie angekündigt – auch wenn sie sich selbst einen ziemlich schwarzen Humor attestiert – sind die komischen Töne hier überschaubar. "Die My Love" verweigert sich tatsächlich ganz einer klaren Genrezuordnung. Elemente des Experimentalfilms offenbaren sich in der achronologischen Erzählweise und der poetischen Bildsprache, von Kameramann Seamus McGarvey auf analogem 35 Millimeter für die große Leinwand gestaltet. Viele Themen werden hochsymbolisch (wilde Pferde, Tinte, die sich mit Muttermilch vermischt), aber so im Nebenbei angedeutet, dass sie interpretationsoffen bleiben. Oft ist zudem unklar, ob sich Dinge in der filmischen Realität oder bloß in Graces Fantasie abspielen.
Durch den speziellen Humor, die Erzählweise, wechselnde Tonalitäten und vor allem die ambivalente Hauptfigur ist "Die My Love" ein Film, der in jeder Einstellung ästhetisch überzeugt, aber schwer zu fassen und selten leicht zu mögen oder zu verstehen ist. Was man sagen kann, ist: In der Figur von Grace kulminiert ein feministisches Unbehagen, ein brüllender Aufschrei gegen stereotype Vorstellungen von Mutterschaft und davon, wie eine Frau zu sein und zu fühlen hat. Ähnlich subversiv hat das zuletzt nur Julia Ducournau in "Titane" (2021) über den Umweg des Body-Horror und mit Hilfe von Science-Fiction-Elementen gewagt.
Jennifer Lawrence, die als Mystique bei den "X-Men" und als Katniss Everdeen in der "Die Tribute von Panem"-Reihe weltweit bekannt wurde, liefert hier die wuchtigste Performance ihrer Karriere. Sie war es auch, die Ramsay als Regisseurin gewann, nachdem Martin Scorsese die Romanvorlage von Ariana Harwicz an Lawrences Produktionsfirma Excellent Cadaver geschickt hatte. Schon in "Silver Linings" spielte sie (2012) eine Figur mit einer nicht näher spezifizierten psychischen Diagnose.
In "Die My Love" steigert sie sich zu einer regelrechten Naturgewalt: Grace ist impulsiv, unnachgiebig und animalisch. Gern bewegt sie sich auf allen vieren geschmeidig wie ein Raubtier vor dem Angriff über den Boden. Statt damit zu hadern, warum dieses Leben als liebende Mutter mit Haus, Mann und Garten zwickt wie ein zu enges Kleid, flieht sie in ihre Fantasie. Ob die sich wirklich zur Psychose steigert? Das bleibt der Interpretation des Publikums überlassen.
USA/Großbritannien/Kanada 2025.Regie: Lynne Ramsay. Buch: Lynne Ramsay, Enda Walsh. Mit: Jennifer Lawrence. Robert Pattinson, LaKeith Stanfield, Sissy Spacek, Nick Nolte. Länge: 118 Min. FSK: 16,ff.
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