Es war selbstlos und mutig, das Attentat von Claus Schenck Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze, dem Führerhauptquartier in Ostpreußen. Aber der Plan misslang. Die in einer Aktentasche versteckte Sprengladung tötete Hitler nicht. Ein Mitverschwörer im Widerstand, der Politiker Carl Friedrich Goerdeler, erklärter Gegner des Attentats, sagte später in der Haft: Dass dieser Plan gescheitert ist, sei ein Gottesurteil gewesen. Stauffenberg und Goerdeler wurden später hingerichtet, wie insgesamt mehr als 200 an der Erhebung Beteiligte.
Ein Gottesurteil? Diese ernste Bemerkung zeigt, wie sicher Menschen früher darauf vertrauten, dass Gott ganz konkret in die Weltenläufte eingreift. Auch zu Goerdelers Zeiten war ein Gottesurteil aber nur noch eine Gedankenfigur und hatte nicht mehr mit der Urteilsfindung im Strafprozess zu tun.
„Mit Gottes Hilfe“ suchten die Richter Licht ins Dunkel der Straftaten zu bringen
Ursprünglich galten Gottesurteile als wichtige Beweismittel in Gerichtsverfahren. Aus dem germanischen Recht hatten sie Eingang in das abendländisch-kirchliche Recht gefunden. „Mit Gottes Hilfe“ suchten die Richter Licht ins Dunkel der Straftaten zu bringen. Schuldig oder nicht schuldig? Wo Indizien nicht aus-reichten oder Delinquenten die Tat bestritten, griffen die Richter zu einem probaten Beweismittel: Sie ließen Gott entscheiden. Als unschuldig galten Beklagte, die eine Probe bestanden. Gelang ihnen das nicht, galten sie als überführt.
Dazu hatten sie etliche Methoden entwickelt. Zum Beispiel waren Feuerproben weit verbreitet: Die Beschuldigten mussten mit nackten Füßen über glühende Pflugscharen gehen (und die Brandwunden sich in Grenzen halten beziehungsweise schnell abheilen) oder mit einem wachsgetränkten Hemd durch einen brennenden Holzstoß steigen (ohne dass sich das Hemd entzündete). Sie mussten mit der nackten Hand einen Gegenstand aus einem Kessel kochenden Wassers oder siedenden Öls holen – blieb der Wundbrand aus, war der Delinquent gerettet.
Der Fantasie der Richter waren kaum Grenzen gesetzt: Begann der Leichnam des Opfers in Anwesenheit des Täters wieder zu bluten? Zeigte der Proband nach Aufnahme der geweihten Hostie abnorme Verhaltensweisen? Welche von zwei Kerzen erlosch zuerst – es war stets die des Schuldigen, nie die des Unschuldigen. Bis ins 16. Jahrhundert hielten sich diese Gottesurteile, zum Beispiel als Wasserprobe in -Hexenprozessen: Ging die gefesselte Beklagte unter, galt sie als unschuldig (und wurde im letzten Moment aus dem Wasser gezogen), schwamm sie obenauf, war das Todesurteil nicht fern.
Wo rationale Analysen nicht ausreichen, hilft auch kein blindes Gottvertrauen
Die Rede vom Gottesurteil oder einer Feuerprobe hat heute fast nur noch als Sprachformel überlebt. Journalisten und Politiker bemühen diese Vokabeln, um ihren Aussagen Gewicht zu geben. Dass einer der Diebe, die vor Jahren 119 Picasso-Gemälde in Avignon stahlen, beim Verhör danach starb, erschien einem Journalisten als Gottesurteil (mit Fragezeichen). Manchmal setzten sich in den Köpfen der Zeitungsleser auch zwei nicht zusammengehörende Fakten zueinander in Beziehung: Nachdem der erzkonservative Bischof Williamson von den Piusbrüdern den Holocaust geleugnet hatte, wurden Seminaristen dieses Ordens beim Wandern von einer Gesteinslawine verschüttet, einer starb.
Ausgesprochen zynisch hingegen war eine Bemerkung der früheren Fernsehmoderatorin Eva Herman: Das tödliche Unglück bei der Loveparade in Duisburg könne auch einen höheren Sinn haben. Herman wörtlich: „Eventuell haben hier auch andere Mächte eingegriffen, um dem schamlosen Treiben ein Ende zu setzen.“ Gegen diese Äußerung bezog umgehend der katholische Bischof von Essen, Franz-Josef Overbeck, Stellung. Diese Katastrophe als Gottesurteil zu interpretieren, sei „furchtbar anmaßend und vergrößert den Schmerz der Betroffenen“. Jetzt gelte es, gemeinsam die Trauer auszuhalten und mit den Opfern solidarisch zu sein.
Es umhüllt etwas Mythisches den Gedanken des Gottesurteils. So bedauerlich es ist, wenn sich manche Straftat nicht aufklären lässt, und so sehr der Wunsch drängt, die Schuld der Beteiligten zu ergründen, so eindeutig gilt auch der Grundsatz des modernen Rechts: im Zweifel für den Angeklagten. Wo rationale Analysen nicht ausreichen, um einen Täter zu überführen, hilft auch kein blindes Gottvertrauen.
gottesurteil
- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können