Neuer Mutterschutz nach Fehlgeburten
"Wir müssen der Gesellschaft klarmachen, wie weh das tut"
Seit Juni 2025 besteht Anspruch auf Mutterschutz auch bei Fehlgeburten - ab der 13. Schwangerschaftswoche. Sterbebegleiterin Birgit Rutz erklärt, was betroffene Eltern darüber hinaus brauchen
leere Babybetten in einem Krankenhaus
Vasiliki/Getty Images
privat
21.10.2025
6Min

chrismon: Sie bezeichnen sich als Sterbe- und Trauer-Doula. Eine Doula ist eine erfahrene Frau, die Mütter bei der Geburt unterstützt. Was heißt das in Ihrem Fall?

Birgit Rutz: Ich begleite Familien, die eine Diagnose bekommen. Entweder dass es keinen Herzschlag beim Kind mehr gibt oder dass das Kind nach oder während der Geburt sterben wird. Ich bin über die Krankenhauszeit und die Geburt da. Danach begleite ich die Eltern in der ganzen Trauer oder wenn sie wieder schwanger sind.

Stefan Wiede

Birgit Rutz

Birgit Rutz begleitet Eltern bei der Geburt toter und sterbender Kinder. Mit ihrem Verein Hope’s Angel versucht sie, Menschen in dieser Ausnahmesituation an die Hand zu nehmen und ihnen dennoch eine schöne Geburt und positive Erinnerungen an ihr verstorbenes Kind zu ermöglichen. So eine seltene Ausnahme ist diese Situation nämlich gar nicht: Bei bis zu jeder dritten Schwangerschaft verliert eine Frau ihr Kind. Birgit Rutz selbst ist Mutter von fünf verstorbenen und zwei lebenden Kindern.

Wie kann man jemandem helfen, der so eine schreckliche Nachricht bekommt?

Sagen wir mal, dass es keinen Herzschlag mehr gibt: Dann werde ich vom Krankenhauspersonal angerufen, fahre hin und setze mich mit den Eltern zusammen. Die sind natürlich in einer Schocksituation. Wir kennen die Reaktionen: Flucht, Angriff oder auch Erstarren. Da muss ich die Eltern herausbekommen. Das heißt, ich muss einen sicheren Raum schaffen. Wenn ich das nicht schaffe, dann wird alles nicht funktionieren. Ab der 15. Woche wird auch ein im Bauch der Mutter verstorbenes Kind natürlich geboren. Deswegen ist das erste Thema meist die Geburt. Die unterscheidet sich gar nicht so sehr von der eines lebenden Kindes. Ich bin dann dafür da, den Fokus auf die Elternschaft zu legen. Denn die Geburt ist eine der wenigen Erinnerungen, die man dann überhaupt mit seinem Kind hat. Das müssen wir gut gestalten.

Warum ist die Zeit danach so wichtig, die durch das neue Gesetz entsteht?

Erst einmal bildet sich bei der Mutter, die das Baby im Bauch trug, Oxytocin, das Bindungshormon. Aber da ist kein lebendes Kind. Das heißt, zu dem seelischen Schmerz, den sie hat, kommt ein fast körperlicher Schmerz. Ich erkläre das den Eltern oft als Entzugserscheinung, als wenn einem eine Droge fehlt. Das ist wie ein Schmerzverstärker. In Teilen kann man dem abhelfen, indem man noch viel Zeit mit dem Baby verbringt, zum Beispiel beim Bestatter. Aber es führt spätestens nach der Beerdigung dazu, dass die Mütter eine Leidenszeit haben.

Eine der großen Hürden ist, dass sie nicht so richtig wissen, um wen sie eigentlich trauern. Außerdem müssen sie erst einmal mit allen Sinnen begreifen, dass sie Mutter oder Vater sind, damit sie Zugriff auf ihre Trauer haben können. Das ist vor allem dann schwierig, wenn es eine sehr frühe Schwangerschaftswoche ist. Man ist in einem emotionalen Ausnahmezustand und braucht eigentlich ganz viel Zeit, um sich selbst zu verstehen, um sich oftmals überhaupt zu erlauben, so intensiv fühlen zu dürfen.

Was können Betroffene denn konkret tun in dieser Zeit?

Man muss diese Zeit nutzen, um zu sortieren, um Zugang zu finden und sich Hilfe zu holen. Niedrigschwellig kann man einen Rückbildungskurs machen, in dem nur Mütter sind, deren Babys auch gestorben sind. Das hilft vielen, weil die anderen nicht über die erste Zeit mit den Kindern reden oder sie sogar mitbringen. Was ich als Begleiterin leiste, ist viel Aufklärung. Ich mache dann Trauerbasic-Tage, an denen ich mit den Paaren in den Austausch gehe und Wissen vermittle, wie Trauer eigentlich funktioniert. Es ist auch wichtig, am Verständnis der Partner füreinander zu arbeiten. Viele Beziehungen zerbrechen ja nach dem Tod eines Kindes. Um dem entgegenzuwirken, muss man erst mal lernen, miteinander darüber zu sprechen, und auch, den anderen so stehen zu lassen, wie er ist in seiner Trauer.

Für diese Trauer- und Bewältigungszeit gibt es jetzt ab der 13. Schwangerschaftswoche zwei Wochen Mutterschutz, ab der 17. sechs Wochen und ab der 20. acht Wochen.

Das reicht nicht aus. Das ist eine Orientierungszeit für die existenzielle Krise, wenn das eigene Kind stirbt. Da steht dein ganzes Leben infrage. Meine Erfahrung ist, dass die meisten Frauen auch nach dem Mutterschutz noch eine Krankschreibung brauchen. Mütter müssen sich auch bei der neuen Regelung immer wieder erklären: warum sie so traurig sind, warum die zwei oder sechs Wochen nicht ausreichen. Man bekommt dann Sätze gesagt wie: Das muss reichen, jetzt müssen Sie nach vorne gucken, lassen Sie doch mal Ihr Baby los.

Auch viele Ärzte, die krankschreiben müssen, haben immer noch nicht verstanden, wie schwer und intensiv diese Trauer und was für ein Einschnitt das im Leben ist. Ich weiß nicht, was dieser Mutterschutz da tatsächlich bewirken wird. Vielleicht wird es bei dem einen oder anderen ein Umdenken bringen, aber wir müssen noch auf anderer Ebene ganz viel Aufklärungsarbeit machen.

Wo sind denn die größten Lücken?

Erst einmal: Für die Frauen, die vor der 13. Woche ihre Kinder verlieren, hat sich ja nichts geändert. Die haben weiterhin keinen Mutterschutz. Aber der Großteil der Fehlgeburten passiert im ersten Trimester. Viele arbeiten dann auch direkt wieder, weil sie sowieso noch nicht darüber gesprochen hatten, dass sie schwanger sind. Später – das sehe ich häufig – werden sie dann doch arbeitsunfähig. Für Väter und Partnerinnen haben wir auch noch gar nichts. Für die ist die einzige Möglichkeit, sich krankschreiben zu lassen oder Urlaub zu nehmen. Davon rate ich eher ab. Der Urlaub ist nämlich häufig später dringend notwendig. Deswegen wären da auch die Arbeitgeber gefragt.

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Wie sollte man denn als Arbeitgeber damit umgehen?

Ich fände es wirklich gut, wenn in der Akutzeit bis zur Beerdigung beide Elternteile ohne Verlust zu Hause bleiben könnten. Das sollte eine ganz wichtige und geschützte Zeit sein. Das heißt, als Arbeitgeber sollte mir klar sein, in der Zwischenzeit hat auch der Vater hier nichts zu suchen. Danach würde ich mir flexible Chefs wünschen, die sagen: Lass uns zusammen schauen, was für dich funktioniert. Zum Beispiel eine Wiedereingliederung.

Sie sprechen als Begleiterin, aber auch als Betroffene, Sie selbst haben zwei lebende und fünf verstorbene Kinder. Was hätten Sie sich denn damals gewünscht?

Ich hatte meine erste Fehlgeburt 1997, ein Jahr, nachdem mein lebender Sohn geboren wurde. Selbst habe ich es nicht mitbekommen. Mein Frauenarzt sagte es mir dann. Als ich es einer Freundin erzählte, war der erste Satz: Das kann ja gar nicht sein. Wir müssen aufhören, uns so zu bewerten. Stattdessen sollten wir sagen: Ich gebe dir den Raum, dass du dich so fühlen kannst, aber ich spreche dir nicht ab, was passiert ist. Das hätte ich mir damals gewünscht, und das würde, denke ich, gesellschaftlich vieles lösen.

Warum tut sich denn die Gesellschaft so schwer mit dem Thema, wenn doch so viele Kinder jedes Jahr vor, während und nach der Geburt sterben und Eltern zurücklassen, die trauern?

Die meisten wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Sie wollen das Unglück kleiner machen. Aber Trösten bedeutet eigentlich: da sein, aushalten, annehmen. Aber auch innerlich wissen: Ich kann nichts tun, um das besser zu machen. Bagatellisieren ist das Schlimmste, was wir machen können. Das fängt mit der Sprache an. Wir reden von Sternenkindern und Regenbogenbrücken. Aber ich sage bewusst deutlich: Ich habe fünf verstorbene Kinder. Das zeigt die Brutalität dessen, was dahintersteckt. Die müssen wir der Gesellschaft klarmachen. Um für diese Kinder eine Lobby zu bekommen und damit auch für die Familien. Das schaffen wir nicht, wenn wir diese schönen Worte benutzen, weil dann keinem klar wird, wie schrecklich das ist und wie groß und wie weh das tut.

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