Florian Mohr:
Einen Tag vor dem errechneten Entbindungstermin spürte meine Frau unser zweites Kind auf einmal nicht mehr. Als sie mich dann aus der Klinik anrief, weinte sie: „Sie finden keine Herztöne mehr.“ Ich raste sofort los, rannte den Klinikflur entlang, eine Hebamme fing mich ab: „Beruhige dich erst mal, so was kann mal passieren.“ Ich schob sie weg.
Unser Baby war tot, gestorben in der 40. Schwangerschaftswoche. Einfach so, niemand weiß, warum. Ob ich bei der Geburt dabeibleiben wolle, fragte mich der Gynäkologe, es könne mehrere Tage dauern. „Ja! Und wenn ich solange im Stehen schlafe“, sagte ich. Sie schoben ein zweites Bett in das Patientenzimmer, das ein Stockwerk über der Neugeborenenstation lag, damit wir nicht die ersten Schreie der anderen Babys hören mussten.
Noch nie habe ich mich als Mann so machtlos gefühlt wie in diesen Stunden, während wir auf die Geburt warteten. Es war, als säße ich fest angeschnallt in einer Achterbahn. Ich konnte nichts tun, nur da sein und die Hand meiner Frau halten. Nach etwa 24 Stunden war Julian geboren. Ich hielt ihn im Arm und sagte ihm immer wieder, dass er bitte schreien soll.
Ich wollte meinen Sohn dann unbedingt selbst anziehen. Es war ja das Einzige, was ich als Papa für ihn tun konnte. Die Hebamme sagte: „Ihr seid als Paar so stark, nicht viele Beziehungen schaffen das.“
Männer müssen die Stellung halten, wenn alles wegbricht, so bin ich erzogen worden
Aber dann zerriss es unsere Beziehung beinahe. Meine Frau weinte viel. Es half ihr, mit anderen über ihren Schmerz zu sprechen, und sie tauschte sich in einer Online-Trauergruppe aus. Ich ging nach der Arbeit zuerst auf den Friedhof. Da stand ich, dachte daran, wie ich Julians Sarg zum Grab getragen hatte, und meine Tränen flossen. Kaum war ich zu Hause, riss ich mich zusammen und konzentrierte mich auf unsere zweijährige Tochter. Ich wollte, dass ihr Alltag ganz normal weitergeht, ich brachte sie in die Kita, aß mit ihr Eis, lud ihre Freunde zu uns ein.
Jeden Tag sagte ich zu meiner Frau: „Wir schaffen das!“ Ich tröstete sie, aber ich sprach nicht über das, was mich bewegte. „Nimmt dich Julians Tod gar nicht mit?“, fragte sie. „Doch“, sagte ich und hängte schweigend Julians Fotos in Wohnzimmer und Küche auf. Ich hatte große Angst, dass wir alle untergehen, wenn ich sie mit meiner Fassungslosigkeit belaste. Männer müssen die Stellung halten, wenn alles wegbricht, so bin ich erzogen worden. Nach zwei Wochen ging ich wieder im Autohaus arbeiten, während sie weiterhin krankgeschrieben war.
Wir stritten immer öfter. „Rede mit mir über deine Gefühle“, bat sie mich, und weil ich es nicht konnte, meldete sie uns zu Gesprächen bei einer Psychologin an. Das war unsere Rettung. Erst in den therapeutischen Gesprächen wurde mir klar, dass ich meiner Familie nicht helfe, wenn ich den Indianer spiele, der keinen Schmerz kennt. Dass wir uns als Paar austauschen müssen, wenn wir uns nicht voneinander entfernen wollen.
Es ging nicht von heute auf morgen. Ich musste mühsam lernen, nicht nur heimlich in der Küche Julian auf dem Foto einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Sondern auszusprechen, dass mein Vertrauen in mein Leben in allen Grundfesten erschüttert war, dass ich nicht damit klarkam, dass etwas so Furchtbares passieren konnte. Auch die Frage nach dem Warum machte mich fertig, weil sie zu nichts führt. All das besprach ich jetzt mit meiner Frau, und es tat mir gut.
Auf mich prasselten viele dumme Sprüche herab
Aber außerhalb unserer Gespräche prasselten hauptsächlich dumme Sprüche auf mich herab: „Ihr seid ja noch jung, dann macht ihr euch bald ein Neues.“ Beim Einkaufen fielen die Leute meiner Frau um den Hals. Ich stand stumm daneben. Aber Julian war auch mein Sohn, auch wenn ich nicht schwanger gewesen war. Es kann sich anscheinend niemand vorstellen, wie verstörend und schmerzhaft die Trauer von uns „Sternenvätern“ ist.
Vier Monate nach seinem Tod kündigte mir mein Chef überraschend aus betriebsbedingten Gründen. Was mich früher völlig aus der Bahn geworfen hätte, nahm ich gelassen hin. Es ist eben nicht alles planbar im Leben. Ich bewarb mich erfolgreich bei einer Holzverarbeitungsfirma und gab im Bewerbungsgespräch an, dass ich zwei Kinder habe: einen Sohn, der vor einem Jahr gestorben ist, und eine Tochter.
Protokoll: Silia Wiebe