Einige Beobachter halten die Zweistaatenlösung – die Vision eines israelischen und eines palästinensischen Staates als Ausweg aus dem Nahostkonflikt – längst für gescheitert. Tatsächlich bilden Israel und das Westjordanland seit Jahren faktisch ein zusammenhängendes Territorium unter israelischer Kontrolle, in dem Palästinenser wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Schon vor dem Hamas-Terroranschlag vom 7. Oktober hatte das US-amerikanische Magazin "Foreign Affairs" diese Diagnose gestellt.
So wirklich tot ist das Zweistaatenszenario aber noch nicht. Auch Deutschland hat immer darauf gedrängt und hält offiziell weiter daran fest. In Israels teils rechtsextremer Regierung ist man sich dessen bewusst. Unter anderem lässt sich so die Verve erklären, mit der man dort über einen palästinensischen Staat herzieht.
Der israelische Verteidigungsminister Bezalel Smotrich sagte erst letzte Woche, als er den Bau der hoch umstrittenen Großsiedlung E1 genehmigte: "So begräbt man einen palästinensischen Staat." Das Projekt würde Ostjerusalem, die mögliche Hauptstadt eines künftigen palästinensischen Staates, vom Rest des Westjordanlands abriegeln und das nördliche und südliche Westjordanland voneinander abtrennen. Dies sei der letzte Sargnagel und Zionismus vom Allerfeinsten, verkündete Smotrich siegesbewusst.
Inzwischen strebt Israels Politik offen die Annexion des Westjordanlands an, auch eine Mehrheit der israelischen Abgeordneten stimmte dafür. "Dies ist unser Land. Dies ist unsere Heimat", sagte Knesset-Sprecher Amir Ohana nach der Abstimmung. Doch diese neue Unverfrorenheit und die mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Gaza haben auf internationaler Ebene vorerst das Gegenteil bewirkt. 147 aller UN-Mitgliedsstaaten erkennen einen palästinensischen Staat bereits an. Nun haben auch Frankreich, das Vereinigte Königreich, Kanada und Australien angekündigt, diesen Schritt zu gehen. Die Zweistaatenlösung hat neues Leben bekommen – zumindest als Idee.
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Wer sich immer noch sträubt, ist die deutsche Bundesregierung. Begründung: Die Anerkennung eines palästinensischen Staates sei einer der "abschließenden Schritte auf dem Weg zur Verwirklichung einer Zweistaatenlösung". Wer jetzt schon einen palästinensischen Staat anerkennt, verwechsle also Ursache und Wirkung.
Die deutsche Haltung verdeutlicht in der Tat eine Gefahr der einseitigen Anerkennung Palästinas durch die internationale Gemeinschaft: Wenn das vor Ort keine realen Konsequenzen hat, droht die Anerkennung zu einer rein symbolischen Geste zu verkommen.
Noch schlimmer wäre es aber, weiterhin auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Dieser wird nicht kommen, im Gegenteil. Wer jetzt zögert, einen palästinensischen Staat anzuerkennen, verkennt die Tatsache, dass die israelische Regierung gerade alles daran setzt, die Welt vor vollendete Tatsachen zu stellen: eine De-facto-Annexion des Westjordanlands.
Angesichts dessen ist der beste Zeitpunkt, einen palästinensischen Staat anzuerkennen, genau jetzt. Es würde Israels Bestrebungen, seine Einverleibung des Westjordanlands schrittweise auch mit institutioneller Duldung oder gar Legitimation zu belegen, einen Riegel vorschieben.
Natürlich darf es nicht nur bei einer leeren Geste bleiben. Die internationale Gemeinschaft müsste konkrete Schritte einleiten, die Palästinenser vor israelischen Übergriffen schützen und die dem neuen rechtlichen Status Palästinas gerecht werden. Gleichzeitig muss man sicherstellen, dass von einem palästinensischen Staat keine Gefahr für das Existenzrecht Israels ausgeht. Mit Hilfe der arabischen Nachbarstaaten müssten Regierungsinstitutionen aufgebaut werden, in denen es für Terrororganisationen wie die Hamas keinen Platz gibt.
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Das zuweilen vorgetragene Argument, man würde mit der Anerkennung Palästinas den Terror der Hamas belohnen, ist jedenfalls haltlos. Die Hamas hat oft genug klargemacht, was sie von einer Zweistaatenlösung hält. In einem Interview aus dem Jahr 1997 sagte ihr Gründer Scheich Ahmed Yassin: "Das Einzige, was ich fürchte, ist eine Realität, in der die Palästinenser glauben, dass die Juden einen palästinensischen Staat neben Israel existieren lassen würden."
Die Anerkennung Palästinas wäre daher weit mehr als nur ein Symbol. Es wäre eine Belohnung für die Gemäßigten und eine Bestrafung für die Extremisten – auf beiden Seiten.