In Elmshorn stand im Frühjahr die ambulante Versorgung vieler Bewohner eines inklusiven Wohnquartiers auf der Kippe, weil eine Pflegekraft gekündigt hatte. Als ihr das bekannt wurde, organisierte die Mutter einer Bewohnerin spontan Hilfe aus der Nachbarschaft. Dafür nutzte sie die Online-Plattform nebenan.de, die Nachbarn vernetzt.
Diese Geschichte wurde uns von der Plattform als rührendes Beispiel dafür genannt, wie das Internet Menschen zusammenbringen kann. Doch die Meinungen in unserer Redaktion gehen auseinander. Ist das wirklich ein nachahmenswertes Beispiel, dem in der Zukunft viele weitere dieser Art folgen sollten?
Dass es in Deutschland an Pflegekräften mangelt, während in der alternden Gesellschaft der Bedarf an Pflege und Unterstützung wächst, steht außer Frage. Offen ist jedoch, wie sich dieses Dilemma lösen lässt.
Solidarität in der Gesellschaft und Hilfsbereitschaft in der direkten Nachbarschaft sind absolut lobenswert. Jedoch möchte ich eindringlich davor warnen, Vorfälle wie in Elmshorn als Vorbild zu propagieren. Denn das würde die Institutionen, die für die Pflege in aller Regel bezahlt werden, von der Pflicht entlasten, für eine gute Pflege zu sorgen. "Es gibt doch die Nachbarn!", könnte es dann schnell heißen. Oder vielmehr: Nachbarinnen.
Denn – das hat die Corona-Pandemie gezeigt – in den seltensten Fällen sind es die Männer, die einspringen, wenn Care-Arbeit benötigt wird. Außerdem arbeiten die ja meist Vollzeit, wie sollen sie sich denn da kümmern?
Vorsicht: Die Verantwortung wird abgegeben
Viele Frauen, allen voran die Mütter und die Töchter pflegebedürftiger Eltern, arbeiten oft bereits in Teilzeit, weil sich eine bezahlte Vollzeitstelle selten mit der unbezahlten Sorgearbeit für Angehörige vereinbaren lässt. Da können sie doch mal eben schnell im benachbarten Senioren- oder Pflegeheim vorbeischauen, wenn sie doch eh zu Hause sind.
Aber sie sind eben "zu Hause", weil sie dort bereits einer Arbeit nachgehen und sich um den bettlägerigen Vater, die demente Mutter oder die lebhaften Kleinkinder kümmern. Diese Arbeit freilich wird selten als solche benannt oder anerkannt, schließlich ist sie ja unbezahlt. Einen Feierabend oder gesetzliche Ruhezeiten gibt es dafür auch nicht.
Sich bei Personalmangel auf Ehrenamtliche zu berufen, sehe ich daher als Gefahr – sowohl für die Nachbarinnen, deren Weg so schnell in die Altersarmut führen kann, als auch für die Wertschätzung eines Berufes, der Fachwissen und eine mehrjährige Ausbildung erfordert.
Zugleich sind die Politik und Pflegeinstitutionen in der Pflicht, nach alternativen Lösungen zu suchen. Wie lassen sich die Missstände in der Pflege und die Überlastung vieler Pflegekräfte beheben? Wie kann man mit attraktiven Angeboten junge Menschen als Auszubildende, Quereinsteiger oder aus dem Ausland gewinnen? In der Zwischenzeit darf jeder helfen, der sich dazu berufen fühlt und die Ressourcen dafür hat. Darauf verlassen, dass es jederzeit genügend spontane Freiwillige gibt, sollten sich die Pflegeanbieter jedoch nicht.