chrismon: Angela Merkel hatte in den letzten Jahren ihrer Kanzlerschaft mehrfach öffentliche Zitteranfälle. Das befeuerte Debatten um ein verfrühtes Ende ihrer Kanzlerschaft. Ist Zittern ein Zeichen von Schwäche oder Krankheit?
Hildegard Nibel: Zittern kann auch ein Zeichen von Erleichterung sein. Normalerweise zittern wir nach einer Extremsituation wie einem Beinahe-Unfall oder einem aufreibenden Streit. Angela Merkel hat mir damals sehr leidgetan, weil die Öffentlichkeit ihre natürliche Selbstheilungsreaktion total pathologisiert hat. Danach gab es absurde Diskussionen, die bei ihr vermutlich wieder Stress ausgelöst haben. Dabei ist das Zittern oft ein Zeichen dafür, dass der Stress von einem abfällt und sich löst.
Sie haben ein Buch über neurogenes Zittern geschrieben. Warum sollte man Zittern absichtlich herbeiführen?
Für den normalen Alltagsgebrauch ist es eine einfache und bequeme Art der Entspannung. Man kann das Zittern nutzen, um Stress und Ärger oder lästige Gedanken loszuwerden, die beim Einschlafen im Kopf kreisen. Man hat einen anstrengenden Tag hinter sich, an dem viel auf einen eingeprasselt ist, dann geht man abends ins Bett, zittert noch ein bisschen, hört vielleicht Musik und hat dann hoffentlich eine angenehme Nachtruhe. Das hilft generell, Stress abzubauen und dadurch leistungsfähiger zu werden. Mir selbst hat es beispielsweise beim Singen geholfen. Ich habe schon nach einer Woche Zittern die Rückmeldung bekommen, dass ich mehr Stimmvolumen habe und lauter singe.
Hildegard Nibel
Was bringt einen zum Zittern?
Es gibt sieben Übungen, die dabei helfen, die "Tension and Trauma Releasing Exercises", kurz TRE. Der Vorteil etwa gegenüber Yoga ist, dass man sie nicht perfekt ausführen und sich auch nicht besonders konzentrieren muss. Viele Übungen kennt man aus dem Sportunterricht. Man arbeitet sich systematisch von den Füßen bis zu den Blickbewegungen vor. Manche Menschen fühlen am Anfang allenfalls ein leichtes Ziehen oder Zucken in den Muskeln, andere zittern schon beim ersten Durchgang der Übungen.
Bei der ersten der sieben Übungen bewegt man nur die Fußsohlen hin und her.
Die fünfte Übung kommt vor allem Katholikinnen und Katholiken bekannt vor, weil es die Körperhaltung ist, die man beim Beten auf der Kniebank einnimmt.
Die sechste Übung ist eine Kniehocke an der Wand, wie wenn man sie aus dem Sport kennt oder zum Aufwärmen vor dem Skifahren.
Bei der siebten Übung, der Schmetterlingsübung, liegt man auf dem Rücken. Dabei presst man die Fußsohlen aneinander, möglichst nahe am Körper, und lässt die Knie nach außen fallen. Für Personen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, kann das retraumatisierend sein, da das eine sehr verletzliche Position ist. Deshalb sollte man sie erst nach einiger Zeit und begleitet machen, vor allem, wenn man entsprechend vorbelastet ist.
Inwiefern kann Zittern gegen Traumata helfen?
Das neurogene Zittern soll helfen, psychosomatische Folgen von Traumata wie Schlaf- und Verdauungsstörungen oder Schmerzen aufzulösen, ohne das Trauma ins Bewusstsein zu rücken. Die Grundannahme ist, dass sich der Psoas-Muskel, der die Wirbelsäule mit dem Becken verbindet, bei existenzieller Bedrohung verkrampft und sich normalerweise durch Zittern wieder löst. In unserer Gesellschaft ist es jedoch verpönt, dieses Zittern offen zu zeigen, oder es gibt nach einer belastenden Situation keinen Ort, an dem man sich sicher genug fühlt, um sich durchs Zittern zu beruhigen. Stattdessen spannt man Muskeln an, um das Zittern zu unterdrücken. So bleibt die Verspannung im Körper.
Wie vermeidet man eine Retraumatisierung?
Menschen, die Schreckliches erlebt haben, denken manchmal, dass sie so lange zittern müssen, bis das Trauma verschwunden ist. Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass körperliche Traumareaktionen wie Schmerzen oder Panikattacken wieder auftreten. Deshalb sollte man die Übungen nur jeden zweiten Tag machen, mit den sechs Übungen im Stehen beginnen und die siebte Übung erst nach ein bis zwei Monaten machen.
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Vorsicht ist vor allem auf Youtube geboten. Es gibt Videos von selbst ernannten "Life Coaches", die sich abstruse Zusatzübungen ausdenken oder effekthascherisch nur die siebte Übung verbreiten. Besser ist es, bei ausgebildeten Trainerinnen in einer Einzelsitzung oder in einer Gruppe das Zittern zu erlernen. Dabei machen alle gemeinsam die Übungen in einem geschützten Raum. Die Trainerinnen und Trainer erkennen Anzeichen von Retraumatisierung und greifen ein. Die sichere Umgebung trägt dazu bei, dass sich die körperlichen Folgen langsam auflösen können, ohne dass die traumatischen Erlebnisse wieder bewusst erinnert werden müssen.
Auch Sie wenden neurogenes Zittern bei Ihrer Arbeit an.
Ich bin Arbeitspsychologin und begleite Jugendliche, die in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen sind und sich nicht allein auf dem Arbeitsmarkt einfinden können. Viele haben bereits verschiedene Therapien hinter sich. TRE kann besonders dabei helfen, körperliche Traumafolgen aufzulösen. So können die Jugendlichen ihre Ressourcen einsetzen, um die Berufsausbildung erfolgreich zu durchlaufen und mehr Lebensfreude zu entwickeln.
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Die TRE-Methode kommt ursprünglich von David Berceli. Wie ist er darauf gestoßen?
David Berceli war ursprünglich ein ehemaliger amerikanischer Ordensmann, der während des Bürgerkriegs im Libanon humanitäre Hilfe leistete. Nach Luftangriffen beobachtete er, dass vor allem Kinder und Haustiere bei der Rückkehr aus den Bunkern zitterten. Die Erwachsenen unterdrückten diese Entlastungsreaktion, vermutlich, um den Kindern keine Angst zu machen. An diese Erfahrung erinnerte er sich, als er nach therapeutischen Möglichkeiten suchte, Störungen beim Verarbeiten von Stress nach Gewalterfahrungen aufzulösen. Die Essenz hat er in den sieben TRE-Übungen zusammengefasst.
Hat die Therapie durch neurogenes Zittern auch spirituelle Anteile?
Die Übungen entstanden aufgrund der Prägung David Bercelis durch verschiedene Religionen. Im Libanon, Nordafrika und New York hatte er mit Menschen verschiedenster Glaubensrichtungen zu tun. Die Methode ist frei von einem spirituellen Überbau. Im TRE sucht man nicht nach dem Sinn des Lebens, es sind Körperübungen, die wohltuend wirken. Es ging Berceli insbesondere darum, die Übungen ohne Sprachbarrieren großen Gruppen vermitteln zu können, etwa in Flüchtlingslagern oder nach Naturkatastrophen.