Bundeswehr-Unglück 2017
"Mir fällt es schwer zu weinen"
Vor sieben Jahren starb Kimberly Müllers Vater bei einem Hubschrauberabsturz in Mali. Was seiner Familie Kraft gegeben hat und wie die Bundeswehr damit umgeht
Kimberly Müller, Tochter des gestorbenen Piloten
"Mir fällt es schwer zu weinen". Kimberly Müller, Tochter des gestorbenen Piloten
Constantin Lummitsch
Constantin LummitschLena Uphoff
21.11.2024
8Min

Ein Tiger-Kampfhubschrauber der Bundeswehr fliegt mit 250 Stundenkilometern über die Sahara, es ist der 26. Juli 2017. Ein Einsatz in Mali im Rahmen der Friedensmission MINUSMA. Die Besatzung hat den Autopiloten aktiviert, fliegt in 500 Metern Höhe. Plötzlich neigt sich die Maschine steil nach unten. Ein Fehler in der Steuerung. Der Autopilot schaltet sich ab, durch Windkraft und hohe Geschwindigkeit zerlegt sich der Rotorkopf innerhalb weniger Sekunden. Die Maschine stürzt ab, beide Piloten sterben.

Sie hätten keine Chance gehabt, etwas gegen die Fehlsteuerung zu unternehmen, heißt es später in einem Bericht des Verteidigungsministeriums. Schuld war eine fehlerhafte Programmierung durch Airbus-Techniker. Die beiden Piloten, Major Jan Färber und Stabshauptmann Thomas Müller, dienten im Kampfhubschrauber- regiment 36 im nordhessischen Fritzlar. Dort erinnert am Eingang der Kaserne ein Denkmal an die beiden Toten, eine Stahlplatte in der Form Malis, darauf zwei Sterne und die Koordinaten der Absturzstelle. Das Heckrotorblatt der abgestürzten Maschine ragt aus der Metallplatte. Ende Juli, sieben Jahre nach dem Unglückstag, hat Militärpfarrer Alexander Ulrich hier zum Gedenkgottesdienst eingeladen.

Es regnet, 50 Soldaten sind gekommen, der Pfarrer predigt. "Jan Färber und Thomas Müller waren Schwarmführer, anerkannt und beliebt. Ein Unfall änderte alles, zerstörte alle Hoffnungen. Sie starben für unser Land." Ein Soldat weint. Der Pfarrer bittet die Angehörigen zu sich: die Eltern von Jan Färber – und Daniela Müller, die Witwe von Thomas Müller. Gemeinsam treten sie vor das Denkmal, senken die Köpfe. Der Regen wird stärker. Der Pfarrer betet. Dann ist der Gottesdienst vorbei, die Soldaten treten weg. Daniela Müller, 55, zierlich, graues Haar, hockt vor dem Denkmal. Sie kam heute als eine der Ersten und hat eine Blume neben das Denkmal gepflanzt, so wie jedes Jahr.

Als sie aufsteht, begrüßt sie ein Soldat. Er ist für die Wartung der Hubschrauber zuständig. Und er kannte Thomas Müller lange, war mit ihm in Mali. Er erzählt, wie sie Müller dort ein Hello-Kitty-Kissen schenkten, damit er bequemer sitzen konnte. Dann verabschiedet sich der Soldat, drückt ihre Hand. Die Angehörigen stehen gebeugt und schweigend vor dem Denkmal. Der Pfarrer kümmert sich jetzt um sie. Sie gehen in Richtung Offizierskasino, Kaffee trinken.

Bundeswehrsoldaten im Tiger-Hubschrauber im Jahr 2017 in Mali (links). Trauerfeier in Fritzlar

Die Gedenkfeier am Unfalltag wird von der Militärseelsorge ausgerichtet. Der Standort beteiligt sich nicht. Der Presseoffizier erklärt: "Das Regiment hat seinen Gedenktag am Montag nach dem Volkstrauertag. Dieser Tag wurde auf Antrag der Soldaten des Standortes festgelegt." Der Presseoffizier erzählt, dass die Erinnerung an den Absturz manche Soldaten sehr belasten würde, die in Mali gewesen sind. Er wisse von Kameraden, die sich an diesem Tag immer frei nehmen würden, damit sie nicht in die Kaserne kommen müssten. So gibt es hier zwei Trauertage im Jahr. Aber nicht nur in Fritzlar, auch im "Wald der Erinnerungen" bei Potsdam wird an Müller gedacht. Dort steht der Ehrenhain, ein Denkmal für die in Mali gestorbenen Soldaten.

Pilot werden war sein Lebenstraum

Ein paar Wochen später lädt Daniela Müller zu sich nach Hause ein. Ein schönes helles Haus am Feldrand. Sie lebt dort allein, für einen neuen Partner ist sie noch nicht bereit. Sie arbeitet als Grundschulbetreuerin. Durch ihre Witwenrente fühlt sie sich gut abgesichert, sagt sie. An diesem Tag ist ihre Tochter Kimberly, 28, zu Besuch gekommen. "Thomas fehlt mir", sagt Daniela Müller. Die beiden hatten sich in der Disco kennengelernt, sie waren beide 18, es lief "In the Air Tonight" von Phil Collins, sie tanzten, ihre Hände berührten sich.

Drei Wochen später der erste Kuss. "Das mit uns ist für immer, dachte ich in diesem Moment", sagt sie. Sie heirateten, bekamen bald darauf einen Sohn und dann eine Tochter. Thomas Müller wurde Pilot – sein Lebenstraum. Er flog über Afghanistan und später über Mali. "Bei jedem Einsatz hatte ich furchtbare Angst, dass etwas passiert", sagt sie. "Nur der Gedanke daran, dass er wiederkommt und ich ihn in meine Arme schließen kann, machte es erträglicher."

Dann stürzte der Hubschrauber ab. Daniela Müller erinnert sich, dass in Whatsapp-Gruppen Gerüchte kursierten – irgendetwas sei in Mali passiert. "Ich schrieb ihm: ‚Bitte melde dich! Geht es dir gut?‘" Es kam keine Antwort. Dann klingelte es an der Tür. Der Kommandeur, ein Psychologe und ein Pfarrer standen da. Sie sagten: "Ihr Mann ist tödlich verunglückt." Daniela Müller weinte tagelang, aß nichts, lag teilnahmslos auf der Couch.

Hilfe für Hinterbliebene

  • Angebote von ASEM
  • Ansprechstelle für Hinterbliebene im BMVg Telefon: 030 - 1824 23030

Ein Psychologe der Bundeswehr betreute sie. Allerdings nur für sechs Wochen. "Dann musste ich mich um einen neuen kümmern", sagt sie. "Ich musste begreifen, dass Thomas nie mehr zurückkommen wird. Aber die Sehnsucht nach ihm bleibt." Manchmal nimmt sie sein Bild in die Hand und spricht all das aus, was er nicht mehr erleben konnte, erzählt von ihren Sorgen, aber auch von den schönen Dingen, von ihren gemeinsamen Kindern. Es fällt Daniela Müller in diesem Moment schwer weiterzureden. Ihre Tochter Kimberly nimmt sie in den Arm. Sie scheint es gewohnt zu sein, ihre Mutter manchmal aufzuheitern. Kimberlys Lachen ist warm und ansteckend, Daniela lächelt.

Das Ehepaar Müller (links oben). Daniela Müller (rechts oben) beim Blättern in einem Fotobuch, das Kameraden Thomas Müller gewidmet haben. Ein Erinnerungsfoto aus Mali (links unten). Das Denkmal in Fritzlar (rechts unten)

"Als Jugendliche war Papa so was wie ein Held für mich", sagt Kimberly. Sie wollte damals Soldatin werden, aber ihr Vater habe es ihr ausgeredet, weil sie eine zu große Revoluzzerin für den Bund sei. Auch vom Traum, Tierärztin zu werden, wollte er sie abbringen. "Mach lieber was für Kinder in Afrika", habe er ihr geraten. Es klang ein bisschen wie ein Scherz, aber der Satz brannte sich in ihr ein, erzählt sie. Als ihr Vater starb, flüchtete sie sich ins Fitnessstudio, stemmte stundenlang Gewichte. "Mir fällt es schwer zu weinen", sagt sie. Stattdessen stopfte sie sich mit Essen voll – und trainierte danach umso heftiger. Sie liebt Crossfit, was die Schwielen auf ihren Handflächen bezeugen, aber gerade hindert sie eine Fußverletzung am Training.

Während sie über die Wüste donnerten, dachte sie über ihre Zukunft nach

Kurz nach dem Tod von Thomas Müller bot das Verteidigungsministerium Mutter, Sohn und Tochter eine Reise nach Mali an. Im Bundeswehr-Hubschrauber flogen sie vom Camp in Gao zur Absturzstelle. Die zwanzig Minuten Flugzeit seien ihr wie Stunden vorgekommen, sagt Kimberly. Der Hubschrauber dröhnte, sie trugen Kopfhörer und konnten sich nicht unterhalten. Während sie schweigend über die Wüste donnerten, dachte sie über ihre Zukunft nach. Sie hatte gerade das Abitur bestanden und die Zusage für einen Job in einem schottischen Hotel erhalten. Während sie der Absturzstelle immer näher kamen, erinnerte sie sich an den Satz ihres Vaters, sie solle was für afrikanische Kinder machen, und in diesem Augenblick wurde ihr klar: Ja, das will ich.

Zurück in Deutschland sagte sie den Hoteljob ab, schrieb sich für ein Lehramtsstudium an der Uni im nahen Kassel ein und flog für ihr erstes Schulpraktikum ins westafrikanische Togo. Noch lieber wäre ihr Mali gewesen, doch das Land ist zu gefährlich. In Togo unterrichtete sie an einer Schule, da sie fließend Französisch spricht – und war von den Bedingungen geschockt: eine Toilette für Hunderte Schüler, baufällige Gebäude, zu wenige Bücher. Sie wollte das ändern. In Deutschland organisierte sie Spendenkampagnen und Benefizkonzerte, sammelte 100 000 Euro ein, mit denen in Togo Bücher gekauft und Gebäude saniert wurden. Immer wieder reist sie nach Togo, redet mit den Menschen, schaut, was dringend benötigt wird.

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Dabei erkrankte sie an Malaria, lag manchmal wochenlang flach. Gerade hat sie ihre Examensprüfungen hinter sich. In einer deutschen Schule zu arbeiten, ist
ihr zu wenig. Sie will in die Entwicklungszusammenarbeit, am liebsten in einem afrikanischen Land. Auch ihre Mutter hat aus ihrer Trauer Kraft geschöpft, um anderen zu helfen.

Der Ehering ihres Vaters, den Kimberly an ihrer Halskette trägt (links). Mutter und Tochter in der Küche (rechts)

Das habe so auch Militärseelsorger Christian Fischer erlebt, erzählt er am Telefon. Er begleitet Familie Müller seit sieben Jahren, leitete damals das Projekt ASEM (Arbeitsfeld Seelsorge für unter Einsatz- und Dienstfolgen leidende Menschen), das sich um verwundete und traumatisierte Soldaten, ihre Angehörigen und um Hinterbliebene kümmert. Dazu gehört auch Trauerbegleitung. ASEM bietet Gespräche, Ausflüge und Seminare an, meist über ein verlängertes Wochenende. Dort kommen Trauernde zusammen, sprechen in der Gruppe oder einzeln mit Psychologen und Seelsorgern, besuchen Kunsttherapie-Kurse oder wandern mit Alpakas.

Wenige Monate nach dem Absturz in Mali hat Daniela Müller ein Trauerseminar besucht. "Danach kam sie immer wieder, brachte sich ein, gab anderen Trauernden durch Gespräche und Anteilnahme Halt. Ohne Daniela Müller hätte es im fünften Jahr des Absturzes keine Gedenkfeier in der Kaserne gegeben", sagt Fischer. Zu diesem Zeitpunkt sei gerade kein Pfarrer bei der Militärseelsorge am Standort Fritzlar vor Ort gewesen – und Müller habe bei ASEM nachgefragt, ob jemand einspringen wollte. Seelsorger Fischer sagte zu, und mehr als hundert Leute kamen, um an die Verstorbenen zu erinnern. "Wir bleiben in Kontakt, telefonieren regelmäßig", sagt Fischer.

Der Einsatz der Bundeswehr in Mali endete vor einem Jahr, die Lage im Land ist noch immer instabil. Thomas Müller hat die UN-Mission das Leben gekostet. Trotzdem, findet Daniela Müller, war es nicht umsonst. "Was wäre die Alternative gewesen? Die Menschen in Mali alleinlassen?", fragt sie.

Im Wohnzimmer von Daniela Müller hängt ein Bild von einem afrikanischen Vogel, Mutter und Tochter schauen es gern an. "Mein Vater liebte Vögel. Wenn es irgendwo piepte, konnte er sagen, was für eine Art das ist", erzählt Kimberly. "Manchmal hat seine Begeisterung sogar ein bisschen genervt." Es höre sich etwas merkwürdig an, sagt Kimberly, aber seit seinem Tod tauche ständig dieses Rotkehlchen auf. Manchmal, wenn sie traurig ist, sitzt es bei ihr auf dem Fensterbrett und blickt sie an. Bei ihrer Hochzeit, vor ein paar Monaten, sei das Rotkehlchen während der Trauung ins Zimmer des Standesbeamten geflogen. Sie habe es mit den Händen einfangen und nach draußen bringen müssen. "Ich glaube ja eigentlich nicht an Übersinnliches, aber die Vorstellung, dass da etwas bleiben könnte, beruhigt mich irgendwie", sagt Kimberly.

Auch wenn sie oft und gern lacht, spürt man in Augenblicken wie diesen, wie sehr sie ihren Vater vermisst. "Er war für mich ein Vorbild", sagt sie. "Er wollte mit seinem Leben etwas Sinnvolles anfangen und diese Welt, auch wenn es vielleicht naiv klingt, ein klein wenig besser machen. Und das will ich auch."

Dieser Text erschien zuerst im JS Magazin.

Infobox

Trauerarbeit beim Bund

Stirbt ein Soldat im Einsatz, werden die Angehörigen durch den Disziplinarvorgesetzten informiert. Bearbeiter des Sozialdiensts der Bundeswehr nehmen mit den Angehörigen Kontakt auf. Die Berater informieren Hinterbliebene über Versorgungsansprüche und geben Hinweise auf mögliche Unterstützung durch Rentenversicherung, Stiftungen und Hilfswerke. Die Beratung umfasst auch die Hilfe bei der Formulierung von Anträgen. Zudem gibt es eine Beauftragte für Hinterbliebene, die den Angehörigen per Brief kondoliert und sie darüber informiert, dass der Name des Gestorbenen im Ehrenmal der Bundeswehr aufgenommen wird, einem Erinnerungsort am Bendlerblock in Berlin.

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