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Kein anderes christliches Traditionsstück dürfte heute so abständig und abstoßend wirken wie die Beichte. Zugleich übt sie aber – vielleicht genau deshalb – einen geheimen Reiz aus. Im Protestantismus wird sie seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr praktiziert. Im Katholizismus gehört sie noch zum offiziellen Programm, dem folgt aber nur eine Minderheit. Ein wichtiges Erbstück – zur Seite gelegt, unbenutzt, aber nicht vergessen. Dann können andere kommen und etwas Neues damit anfangen.
Zum Beispiel die Berliner Cartoonistin Jana Kreisl. Ich lernte sie über ihren Beicht-O-Mat kennen. Das ist eine Box, die sie auf öffentlichen Plätzen aufgestellt hat; sie hat Menschen hineingebeten, damit sie ihre Geschichten erzählen; daraus hat Jana Kreisl einen Cartoon gestaltet und ihren Beichtgästen dann mitgegeben. Wie gesagt, wer regelmäßig chrismon liest, hat davon etwas mitbekommen. In ihrem vor kurzem erschienenen Buch "Geht’s eigentlich nur mir so?" kann man diese Geschichten und Bilder jetzt im Zusammenhang betrachten.
Lesehinweis: Interview mit Jana Kreisel
Was mir dabei auffiel: Die christliche Beichte ist ein gesunkenes Kulturgut, aber viele Menschen haben das Bedürfnis, etwas loszuwerden, sich ungebetene Gefühle von der Seele zu reden. Man muss ihnen nur die Gelegenheit dazu geben. Was mir auch auffiel: Christliche Normen sind für die meisten ohne Gültigkeit, aber viele scheinen ein schlechtes Gewissen zu haben. Es ist kein Schuldgefühl gegenüber Gott und seinen Geboten, sondern eher ein Unbehagen über sich selbst. So viele Erwartungen kommen von außen und innen, man kann ihnen nicht gerecht werden, das löst das Empfinden aus, mit einem selbst sei etwas falsch.
"Ich habe große Versagensängste im Job und Selbstzweifel." "Ich wünschte, ich könnte meinen Kopf aufmachen und ihn einmal richtig durchpusten, um alles Unnötige rauszuschmeißen. Darin sind so viele Wünsche und Erwartungen von anderen Menschen." "Ich stehe mir selbst im Wege." "Ich habe so eine immense Anspruchshaltung an mich selbst. Ich bin getrieben." "Ich weiß nicht, ob ich noch die Person bin, die ich einmal war." "Ich kann nicht gut Nein sagen."
Was hier hilft, ist ein Mensch, der zuhört, ohne zu werten oder zu verurteilen – eigentlich das, was man von heutiger christlicher Seelsorge erwartet. Zu ihrer Überraschung, so scheint es, ist Jana Kreisl in diese Rolle gerutscht – mit dem Unterschied, dass sie das Gehörte nicht in ihrem Schweigen verwahrt hat. Sondern sie hat daraus kleine ästhetische Werke gestaltet: Cartoons, die zugleich schwer und leicht sind, ernst und heiter. Ob die Beichtgäste ihre eigene Bildergeschichte von ihr wie eine Art Absolution entgegengenommen haben?
Beim Lesen fiel mir auf, wie sehr viele Menschen sich um sich selbst drehen. Was sie zu beichten hatten, waren keine schwere Untaten, sondern eben dieses unselige Auf-sich-selbst-bezogen-sein. Da fiel mir mein Lieblingssatz meines Lieblingstheologen ein: Glück, so der evangelische Aufklärer Johann Joachim Spalding, heiße, "mit sich selbst im Reinen zu sein und Gott zum Freund zu haben." Wie unglücklich erschienen mir da Kreisls Beichtgäste.
Andererseits, heute gibt es viele Menschen, vor allem mächtige Menschen, die viel zu sehr mit sich im Reinen sind. Ein schlechtes Gewissen, eine Rücksicht auf berechtigte Erwartungen anderer, höhere Ansprüche an sich selbst, moralische Selbstzweifel scheinen sie nicht zu kennen. Man wünschte ihnen, dass sie weniger mit sich im Reinen wären.
Will man der vormodernen Beichtkultur des Christentums historische Fairness zuteilwerden lassen, wird man nicht nur ihre Schattenseiten in den Blick nehmen. Man wird in ihr auch eine Quelle ethischer Gewissenhaftigkeit erkennen. Glaube und Gewissen sind im Christentum auf das Engste verbunden. Dazu gehört, dass man sich zum Problem wird, man unbefangen eigene Fehler bedenkt, um in Zukunft, sich selbst und den anderen gerechter zu werden. Ob man dafür heute noch die Beichte oder einen Beicht-O-Mat braucht, weiß ich nicht, ist mir auch egal. Wichtiger ist, dass diese Substanz nicht verloren geht.