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Sonntag, 11 Uhr, Washington, D. C., Vereinigte Staaten von Amerika: Herbstlicher Nieselregen liegt über der Stadt. Sanftes Licht dringt durch die Buntglasfenster. Die mächtige Orgel spielt, während der Chor der Saint John’s Church in der US-Hauptstadt Washington festlich gekleidet ins Gotteshaus einzieht und sich links und rechts neben dem Altar niederlässt. Hinter dem Altar stehen ein Metallkreuz und Blumenschmuck in herbstlichen Farben. Alles wirkt festlich.
St. John’s ist für amerikanische Verhältnisse eine alte Kirche. Im Jahr 1816 wurde sie eingeweiht. Seitdem steht sie direkt gegenüber dem Weißen Haus. Im Juni 2020 stellte sich der damalige US-Präsident Trump mit einer Bibel in der Hand vor St. John’s. Das Bild davon ging um die Welt. Es war die Zeit der "Black Lives Matter"-Proteste und Trump hatte sich den Weg durch Demonstrierende von seinen Sicherheitskräften mit Gewalt bahnen lassen.
An diesem Sonntag sind rund 250 Leute zum Gottesdienst gekommen – es ist der dritte heute. Die Kirche ist nicht ganz gefüllt. Die Besucher begrüßen sich mit freundlichem Lächeln, einem kurzen Gespräch und Händeschütteln. Die meisten Anwesenden sind weiß, mittleren Alters und sonntäglich gekleidet. Auf dem Liedblatt, das man am Eingang bekommen hat, steht, St. John’s sei eine Gemeinde für Menschen aller Abstammungen, Gender, sexuellen Orientierungen und Ansichten, "gegründet in Liebe".
Eine ungewöhnliche Gemeinde
In der Mitte der Kirche steht eine besondere Bank: "The Presidents’ Pew". Die Bank für die Präsidenten der USA. Seit James Madison (Präsident von 1809 bis 1817) hat jeder Präsident an mindestens einem Gottesdienst teilgenommen. Am häufigsten soll George W. Bush gekommen sein. Seit den 1930er Jahren feiert St. John’s am Tag der Amtseinführung der Präsidenten Gottesdienste mit den neuen Bewohnern des Weißen Hauses. Heute sitzen mehrere "normale" Kirchgängerinnen auf der Präsidentenbank. Jeder darf dort sitzen, beten und knien, wenn kein Präsident anwesend ist.
Die Kirchenmusik, Orgel und Chor, prägt den Gottesdienst. Die rund 30 Männer und Frauen des Chors und die Gemeinde singen traditionelle anglikanische Kirchenlieder und moderne Hymnen. Die Gemeinde betet kräftig mit, spricht das Nizäische Glaubensbekenntnis. Bei den Fürbitten werden kranke Gemeindeglieder namentlich erwähnt. Beim Friedensgruß schütteln sich die Menschen die Hände. Nur ab und zu umarmen sich zwei. Die Kollekte kann per Umschlag oder elektronisch per QR-Code bezahlt werden. Beim Abendmahl singen alle das vielen US-Protestanten vertraute und bewegende "Just as I Am", ein demütiges Bekenntnis, dass man so zu Gott komme, wie man eben ist – in der Hoffnung auf Erlösung. Fast alle gehen nach vorn und empfangen Brot und Wein. "Wir glauben, dass dieser Tisch nicht uns gehört, sondern Jesus", betont Pfarrer Robert W. Fisher, ganz in Weiß gekleidet, mit grüner Stola um die Schultern. Jesus heiße alle willkommen.
Fisher predigt über das Evangelium für den Sonntag: Markus 9,38‒50. Es geht um Jesu Mahnung, gegen ihn zu sein und sich vom Bösen verführen zu lassen: "Wenn dich dein Auge von mir abbringt, reiß es aus!" Pfarrer Fisher spricht davon, dass der Mensch ohne Gott nicht vollständig ist und dass die Gemeinschaft der Gläubigen nicht vollständig ist, wenn man sich von anderen abgrenze. Sein Tonfall ist mehr suchend als belehrend. Er wirkt freundlich und zugewandt.
St. John’s sei eine ungewöhnliche Gemeinde, erzählt Fisher im Gespräch. Viele der rund eintausend Mitglieder arbeiten für die Regierung in gehobenen Posten, manche sind Militärs oder Ex-Militärs. Sie seien in die Hauptstadt gekommen, um beizutragen, zu dienen, der Regierung oder Politikern, sagt Fisher. Wichtig seien den Mitgliedern gute Musik, intellektuelle Anreize, auch bei der Predigt. Nach dem Gottesdienst lädt die Gemeinde an manchen Sonntagen zum Mittagessen ein.