Heute wählt Amerika. Die Entscheidung fällt zwischen der 60 Jahre alten Kamala Harris, die vor dem Ende der Demokratie in den Vereinigten Staaten warnt. Und zwischen dem 78 Jahre alten Donald Trump, der von 2016 bis 2020 Präsident war und – wie schon im Wahlkampf gegen Hillary Clinton – mit absurden, menschenverachtenden, rassistischen Aussagen auffällt. An seinem ersten Tag im Amt wolle er "Diktator für einen Tag sein".
Aus den vergangenen Wochen werden vermutlich nicht Harris' Warnungen hängen bleiben. Und auch nicht, welches Steuerprogramm Harris und die Demokraten fürs Land vorsehen (tatsächlich haben die Demokraten ein weit umfangreicheres Programm vorgelegt als die Republikaner). In Erinnerung bleibt dagegen vermutlich Trumps Behauptung, in die USA zugewanderte Menschen würden Hunde und Katzen essen. Wie kann das Rennen um das Präsidentschaftsamt in den USA auf diesem Hintergrund nur so eng sein?
Die Soziologin Arlie Russell Hochschild, früher Professorin an der University of California in Berkeley und mittlerweile emeritiert, hat über Jahre in einer der ärmsten Regionen der Vereinigten Staaten zu Trump-Wählern geforscht. Mit Blick auf den Aufstieg der AfD sind ihre Erkenntnisse auch für Deutschland interessant. Ihre These ist: Trump ist nicht aussichtsreich im Rennen, obwohl er die Grenzen des Sagbaren immer wieder verschiebt – sondern weil er Tabus bricht. In einem Interview mit "Zeit online" sagt Arlie Russell Hochschild: Trump äußere etwas Grenzüberschreitendes, "zum Beispiel: Alle Einwanderer vergiften das Blut Amerikas oder: Sie essen unsere Haustiere. In der zweiten Phase kritisieren die Meinungsmacher Donald Trump für seine grenzüberschreitende Aussage. In der dritten Phase wird er zum Opfer der Kritiker: Schaut, wie ich leide. Sie sind alle gegen mich. Ihr, meine Anhänger, wisst ihr, wie sich das anfühlt? Sind sie nicht auch hinter euch her? Aber ich nehme das auf mich – für euch. In der vierten Phase kommt dann das große Aufbäumen: Ich werde mich rächen."
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Diese Kommunikationsstrategie würde wohl nicht aufgehen, wären die USA nicht ein sozial und wirtschaftlich tief gespaltenes Land, in dem sich viele Menschen als Opfer der wirtschaftlichen Entwicklung sehen. Ganze Landstriche sind abgehängt, andere Orte schwimmen im Reichtum. Der amerikanische Traum, das Aufstiegsversprechen, dass reich werden kann, wer sich anstrengt, ist tot. Das reichste Prozent in den USA verfügt über 40 Prozent des Gesamtvermögens. Und Zahlen vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung zeigen: Im Schnitt wurde die US-Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten von Jahr zu Jahr ärmer. Das liegt auch an der Entwicklung bei den Einkommen. 1965 verdienten Vorstandsvorsitzende großer Firmen in den Vereinigten Staaten im Schnitt noch das 21-Fache von einfachen Angestellten. 2023 lag dieses Verhältnis bei 290:1. Einige wenige Menschen verdienen heute also sehr viel Geld, werden reich. Aber dieser Zuwachs erreicht eben nicht die breite Masse.
Man sagt, Amerika sei uns in Deutschland in allem um Jahre voraus und biete einen Blick in die Zukunft. Das gilt für Innovationen und Errungenschaften ebenso wie für Gefahren. Was also lässt sich lernen aus diesem Wahlkampf? Man sollte aufhören, jede noch so ungeheure Äußerung von rechtspopulistischen Menschenfängern wie Donald Trump immer wieder zu wiederholen. Das ist leichter gesagt als getan. Natürlich muss man sich dazu verhalten. Einige US-Medienmacher regten nun an, nicht nur die (wenigen) klaren, oft hasserfüllten Botschaften aus seinen Reden zu zitieren, sondern ganze Passagen, die deutlich machen: Dieser Mann mäandert, redet wirr, kommt nicht auf den Punkt. Außerdem raten sie: Man kann, man darf nicht Falschaussagen gleichsetzen mit programmatischen Aussagen von Mitbewerbern.
Vor allem aber braucht es eine politische Strategie, wirtschaftlich abgehängten Bevölkerungsschichten eine Perspektive zu geben und Vermögen gerechter zu verteilen. Statistisch gesehen steht Deutschland nicht viel besser da als die USA. Das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland verfügt über 29 Prozent der Vermögen. In diesem Punkt sind wir nicht mehr weit entfernt von amerikanischen Verhältnissen.