Nachbildung des Tagebuchs von Anne Frank im Center Ana Frank Argentina im Stadtteil Belgrano von Buenos Aires, Argentinien
"Anna Frank wurde mir zur Schwester", schreibt unsere Leserin Dorothea Schmitt-Hollstein
Leo La Valle / picture alliance / dpa
Antisemitismus
Wie Anne Frank mein Leben veränderte
1955 bekam chrismon-Leserin Dorothea Schmitt-Hollstein das "Tagebuch der Anne Frank" in die Hände. Hier erzählt sie, was darauf folgte und warum ihr heute der zunehmende Antisemitismus so Angst macht
30.10.2024
6Min

Im Olympiadejahr 1936, als ich im westfälischen Recklinghausen geboren wurde, erlebten die Menschen unter nationalsozialistischer Herrschaft vermutlich zum letzten Mal eine gute Zeit. Die Wirtschaftskrise schien vorüber, es gab Arbeit und allgemein die Hoffnung, unter den neuen "geordneten" Verhältnissen gehe es aufwärts. Selbst die jüdischen Deutschen, auf die das nicht zutraf, mochten glauben, es werde schon nicht so schlimm kommen wie befürchtet. Dieser Traum zerplatzte spätestens in der Reichspogromnacht im November 1938. Nach dem Ende der international angesehenen Olympiade ließ das Regime alle Hemmungen fallen.

Privat

Dorothea Schmitt-Hollstein

Dorothea Schmitt-Hollstein, geboren 1936 in Recklinghausen/Westfalen, arbeitete als Journalistin und Jurorin bei Filmfestivals für Interfilm (evangelisch und ökumenisch) und den Verband der deutschen Filmkritik (VdFk). Sie lebt in Karlsruhe.

Als Kind bekam ich davon nichts mit. Meine im Ruhrgebiet lebenden Großeltern hatten gelegentlich amüsiert berichtet, wie sie als Kinder den frommen jüdischen Nachbarn, denen Arbeit jeglicher Art am Sabbat verboten war, geholfen hatten, Licht anzumachen und den Ofen anzufeuern. Sie hatten auch einen jüdischen Hausarzt. Aber ansonsten gab es keine Kontakte.

Von 1938 an lebte ich mit meinen Eltern im oberschlesischen Beuthen. An antisemitische Beeinflussung durch meine Lehrerinnen in den ersten zwei Schuljahren kann ich mich nicht erinnern. Politische Äußerungen muss ich aber wohl aufgeschnappt haben. Als mein Vater 1943 im Krieg starb, gab ich Juden die Schuld. Und ich erinnere mich, dass ich einmal eine Zeichnung anfertigte, auf der ein dicker Jude namens Churchill auf einem Sack sitzt, aus dem Schiffe und Flugzeuge quellen. Der britische Premierminister entstammte dem britischen Hochadel und war kein Jude, aber das spielte für die Propaganda offenbar keine Rolle. Vielleicht hatte ich auf der Straße einen Aushang der Zeitschrift "Der Stürmer" mit seiner wüsten Hetze gesehen, den meine Patentante in einem Brief an ihre Eltern einmal wie eine "Kuriosität" erwähnte.

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Es muss im Spätherbst 1941 gewesen sein, als mir, der Fünfjährigen, in Beuthen kleine Mädchen begegneten, die einen gelben Davidstern auf dem Mantel trugen. Sie kamen mir sehr fremd vor. Danach verschwanden die Juden aus dem Straßenbild. Sie waren ja, wie es hieß, "zum Arbeitseinsatz im Osten" abgeholt worden. Dass man ihr zurückgelassenes und vom Staat konfisziertes Hab und Gut billig erwerben konnte, schien "vernünftig" zu sein.

Vater habe "schreckliche Dinge" gesehen

Der Mann meiner Patentante, der als Polizeibeamter in Ungarn eingesetzt war, brachte mir bei einem Urlaub Geschenke mit: eine goldene Kette und einen Ring. Heute bin ich froh, dass ich beides durch Unachtsamkeit verloren habe – es muss jüdischer Schmuck gewesen sein. Bis Kriegsende war die Frage, wie man mit den Juden umging, angesichts der zermürbenden Bombenangriffe, die ich bei Besuchen in Köln und Recklinghausen in Todesangst miterlebte, sowieso kein Thema mehr. Es ging ums eigene Überleben.

Es habe keinen Soldaten gegeben, der von den Judenmorden nichts erfahren habe, sagte mir später ein evangelischer Pfarrer. Die Viehwagen, die mit deportierten Juden zu den Konzentrationslagern fuhren, wurden für die Frontrückkehrer auf Abstellgleisen angehalten nach dem Motto "Räder müssen rollen für den Sieg". Bei seinem letzten Urlaub kurz vor seinem Tod in der Ukraine im August 1943 verstörte mein Vater meine Mutter mit der rätselhaften Erklärung, er habe "schreckliche Dinge" gesehen, über die er nicht sprechen könne. Aber an seinen Händen "klebe kein Blut". Unser deutschpolnisches Kindermädchen berichtete mir nach dem Krieg, der Rauch der Gasöfen von Auschwitz sei bis ins nahe Beuthen geweht. Meine Mutter blieb ahnungslos. Selbst bei der Flucht aus Oberschlesien zurück zu den Eltern in Recklinghausen glaubte sie noch an den "Endsieg".

Anne Frank wurde mir zur Schwester

Nach Kriegsende war im Geschichtsunterricht von der NS-Zeit keine Rede. Umso größer war der Schock, als ich als 19-Jährige das "Tagebuch der Anne Frank" in die Hand bekam. Die Jahreszahl 1955 ist noch im Taschenbuch vermerkt. Das Mädchen, das sich mit der Familie in Holland vor den Verfolgern verbarg und aufschrieb, was sie erlebte, wurde mir zur Schwester. Anne liebte ihren Vater und hatte Zoff mit ihrer Mutter – ich auch. Sie war verliebt – ich auch. Sie wollte Schriftstellerin werden – ich auch. Und sie schrieb Tagebuch - ich auch. Als 16-Jährige hatte ich damit angefangen, damit ich später vielleicht einmal mehr Verständnis für meine Tochter hätte.

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Während das Tagebuch der Anne Frank innerhalb weniger Monate zum Bestseller wurde, kam Kritik auf. Es sei eine "Fälschung", hieß es. Eine 13-Jährige könne so etwas gar nicht schreiben. Ich war empört, denn ich wusste es besser. Entsetzt war ich, als ich wenig später den französischen Dokumentarfilm "Nacht und Nebel" im Kino erlebte: Ich sah, wie Bagger nach der Öffnung eines Konzentrationslagers Leichenberge in Massengräber schaufelten. Anne Frank starb in Bergen-Belsen an Hunger und Typhus; auch sie liegt in einem Massengrab, das ich später besucht habe. Das Mädchen, dem ich mich so eng verbunden fühlte, war als Jüdin von meinen Landsleuten ermordet worden. Wie konnte das geschehen? Diese Frage wurde zu meinem Lebensthema, sie lässt mich bis heute nicht mehr los.

Promotion zum Thema Antisemitismus

Wie wird man, wie Anne Frank das plante, Schriftstellerin? Schon als ich 1951 bei einem Kinderpreisausschreiben meiner Heimatzeitung den 1. Platz errang, war mir der Gedanke gekommen, das Handwerk als Journalistin zu erlernen. Tatsächlich ergatterte ich fünf Jahres später bei der Recklinghäuser Zeitung ein Volontariat, das erste für eine Frau. Als Jungredakteurin durfte ich auch meiner Kinoleidenschaft frönen und die Filmseite gestalten. Doch dann zog es mich zum Studium in die geteilte Pressestadt Berlin. Das Studium der Zeitungswissenschaft konnte man damals an der Freien Universität in Westberlin nur mit einer Dissertation abschließen. Mit meinem Thema "Die Judendarstellung im nationalsozialistischen Spielfilm" fand meine Arbeit als Taschenbuch später unter dem neuen Titel "’Jud Süß’ und die Deutschen" auch in den USA und Israel Beachtung.

Bis zur Promotion aber waren es sechs Jahren mühseliger Recherche. Doch ich wusste, Anne Frank hätte auch durchgehalten. "Warum schreibst Du über Juden? Du bist doch keine Jüdin?" fragte mich eine Tante missbilligend. Wie sie hatte 1940/41 fast jeder Erwachsene den Film "Jud Süß" gesehen. Mit diesem erfundenen Sexdrama über den württembergischen Hofjuden Joseph Oppenheimer hatte der Regisseur Veit Harlan einen überwältigenden Kino-Erfolg erzielt.

Durch meine Recherchen lernte ich, dass der auf "Jud Süß" folgende angebliche Dokumentarfilm "Der ewige Jude" von Fritz Hippler die Zuschauer mit seinen Horrorszenen abschreckte. Spitzel notierten Aussagen von Kinogängern wie "Wir haben genug von dem jüdischen Dreck". Das veranlasste NS-Propagandaminister Joseph Goebbels zur Vorsicht. Fortan durften unsympathische Juden nur noch nebenbei in Filmen auftauchen. Und die konnte man nach dem Krieg einfach herausschneiden, so wie beim Film "Reitet für Deutschland" mit dem damals sehr beliebten Schauspieler Willy Birgel.

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"Ich schreibe nicht über reale Juden", erklärte ich meiner Tante. "Ich beschreibe das Zerrbild von Juden, das die Propaganda als wirklichkeitsgetreu ausgegeben hat." Das antisemitische Filmrezept war simpel: Hier der stolze, unbesiegbare Arier, dort der tückische Widersacher, der die reine deutsche Rasse verderben will. Man musste den als "typisch jüdisch" dargestellten Personen nur alle denkbar schlechten Eigenschaften mitgeben, und schon strahlten die nichtjüdischen Figuren daneben im hellsten Licht. Ich fragte mich bei meinen Recherchen immer wieder: Sah damals niemand, dass die Filmkarikaturen der Juden die verleugneten Schlechtigkeiten der eigenen "Volksgenossen und Volksgenossinnen" widerspiegelten? Habgier, Heimtücke, Ängstlichkeit und Feigheit.

Wie die antisemitische Charakterdarstellung in Filmen funktioniert, das konnte ich beschreiben. Aber warum überhaupt Juden und Jüdinnen ausgegrenzt und verfolgt wurden, habe ich bis heute nicht verstanden. Sie waren doch von alters her unsere deutschen Mitbürger und Mitbürgerinnen.

Ich werde nie das Gespräch mit einer Mannheimerin in den 1960er Jahren vergessen. Sie war als Sudentendeutsche dem sogenannten Aussig-Massaker im Juli 1945 entkommen, einem Massaker an der deutschen Zivilbevölkerung in der damaligen Tschechoslowakei. Sie grollte den Tschechen nicht. Aber ein Erlebnis ihres Großvaters hatte sie zur Antisemitin gemacht: Er hatte seine Mühle einem Juden überlassen, und der hatte sie zu einem höheren Preis weiterverkauft – eine keineswegs ungewöhnliche Praxis im Geschäftsleben. Wie kommt es zu einer so ungleichen Bewertung von Erfahrungen?

Warum musste Anne Frank sterben? Warum lebt heute der Antisemitismus in Deutschland wieder auf? Die Politik der israelischen Regierung kann es nicht sein, denn die wird auch von Juden kritisch gesehen. Wenn sich jüdische Mitmenschen in Deutschland vor Angriffen fürchten müssen, wer sind dann die nächsten, die sich sorgen müssen? Wird das antisemitische Rezept künftig auch auf Menschen fremder Herkunft oder einfach auf Missliebige übertragen? Kann ich mich dann noch in meiner Heimat sicher fühlen?

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