Illustration von abstrakten Figuren, die Alkohol konsumieren und unterschiedlich darauf reagieren
Katharina Gschwendtner
Alkohol
Alkohol ist keine Entschuldigung
Die einen tanzen, die anderen schlagen zu - wenn sie betrunken sind. Das lässt sich ändern, sagt der Psychiater Jakob Hein. Denn wie man sich im Rausch verhält, ist kulturell bedingt
Susanne Schleyer
Florian Quandt
15.10.2024
6Min

"Tut mir leid, aber da war ich betrunken." In den Tagen nach den Erntedank- und Oktoberfesten wird dieser Satz wohl öfter zu hören sein. Es gibt Sätze, die tief in unserer Kultur verankert sind. Und je älter sie sind, desto wahrer fühlen sie sich an. Die Überzeugung, dass Alkohol die Psyche enthemmt, ist geradezu biblischen Alters. Paulus schreibt in der Bibel: "Und betrinkt euch nicht, denn das führt zu einem zügellosen Leben . . ." Selbst das deutsche Strafgesetz erkennt für Taten unter Alkoholeinfluss eine verminderte Schuld oder spricht sogar von Schuldunfähigkeit. Doch ist das wissenschaftlich belegt? Wie kann man der psychischen Wirkung des ­Alkohols auf den Grund gehen, ohne in kulturell geprägte Denkmuster zu verfallen?

Diesen spannenden Fragen haben sich vor etlichen ­Jahren Craig MacAndrew und Robert Edgerton ­verschrieben und ihre Erkenntnisse in dem Buch "Betrunkenes Betragen" veröffentlicht. Die beiden sind Anthropologen und untersuchen kulturelle Phänomene. Wie wird in verschiedenen Gesellschaften gekocht, wie geheiratet, wie gestritten? Nun stellten sie sich die Frage: Wie gleich oder wie unterschiedlich verhalten sich die Menschen in den verschiedenen Kulturen, wenn sie betrunken sind? Reagiert die Psyche auf Alkohol im Prinzip immer nach demselben Muster? Alkohol wirkt sich auf das Nervensystem identisch aus – überall auf der Welt, durch die Jahrhunderte hindurch: Der Gleichgewichtssinn wird beeinträchtigt, die motorische Koordination fällt schwer – das betrifft die Gliedmaßen wie die Zunge – und schließlich schlafen die Menschen ein.

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Aber wie wirkt sich der Alkohol auf die Psyche aus? Es ist ja schon interessant, dass die gleiche Menge Alkohol unterschiedlich wirken kann, abhängig von Anlass und Umgebung. So werden die Gäste auf einem Empfang im Ministerium selten dieselben Lieder singen, die sie mit gleichem Blutalkoholwert im Stadion anstimmen würden. Und wenn ein Mann in einer Bar an drei Tagen hinter­einander vier große Bier und vier Doppelte trinkt, am ersten Tag danach weint, am zweiten anschließend einschläft und am dritten sexuell überaus interessiert wirkt, so führen wir das stets auf seine Betrunkenheit zurück. Dabei sind diese drei Verhaltensweisen doch psycho­logisch betrachtet völlig verschieden.
Könnte es also sein, dass die Wirkungen von Alkohol kulturell beeinflusst sind und dass die Zuführung von ­Ethanol zur menschlichen Psyche nicht wie ein ­chemisches Experiment mit dem immer selben Ausgang funktioniert?

Um das zu untersuchen, zogen Craig MacAndrew und Robert Edgerton unzählige Berichte ihrer Kolleginnen und Kollegen aus den vergangenen Jahrhunderten heran. Denn nur damals, als sich die Kulturen noch weitgehend unabhängig und unbeeinflusst voneinander entwickelten, kann die Antwort gefunden werden. Seit dem 20. Jahrhundert werden fast überall auf der Welt ­Massenmedien konsumiert, in denen ja auch immer wieder gezeigt wird, wie Menschen auf Alkohol reagieren. Das führt dazu, dass auch andere Kulturen diese Rituale übernehmen. Wer das nicht glaubt, möge mir Halloweenfeste oder Jung­gesellinnenabschiede in Deutschland vor 1980 ­zeigen. ­Also griffen die Autoren des Buchs auf Berichte von ­Jesuitenpriestern wie Martin Dobrizhoffer, der von 1748 bis 1768 im Inneren Südamerikas beim Volk der Abiponen lebte, und auf die Aufzeichnungen von Ruth Leah Bunzel über ihre Zeit in Chiapas 1936 bis 1937 zurück.

Die Ergebnisse dieser unvoreingenommenen Betrachtungen sind einigermaßen erstaunlich. Denn die psychische Reaktion auf Alkohol unterscheidet sich erheblich zwischen den Kulturen. Die Ifalik in Mikronesien oder die Gesellschaft der Aritama in Nordwestamazonien verändern ihr Verhalten fast nicht unter dem Einfluss auch größter Mengen Alkohols, während die Männer und Frauen auf der kleinen japanischen Insel Takashima ­unter Alkoholeinfluss gemeinsam singen, tanzen und einander freundlich umarmen, völlig ohne Aggressivität. Bei den Papago im südlichen Arizona gibt es "zwei Arten des Trinkens": Im Rahmen von Zeremonien wird Kaktuswein getrunken, was zu Verspieltheit und guter Laune führt. Es wird aber auch der Whiskey des weißen Mannes konsumiert, von dem die gleichen Menschen aggressiv und bösartig werden.

Runde um Runde, Gesellschaft für Gesellschaft werden Zweifel an der These zusammengetragen, dass Alkohol nur die eine bestimmte psychische Wirkung hat. Zum Beispiel werden auch im Zustand größter "Enthemmung" in praktisch ­allen Kulturen die Tabus und zentralen gesellschaftlichen Regeln der Gesellschaften eingehalten. Die Gesellschaft der Lepcha etwa feiert einmal jährlich ein großes Erntefest, auf dem unter Alkoholeinfluss völlige sexuelle Freizügigkeit herrscht und Ehepartner nicht einmal inter­venieren, wenn sie den oder die andere beim außer­ehelichen Verkehr beobachten. Und doch ist es eben keine völlige Freizügigkeit. Denn die Inzesttabus der Lepcha, die sehr streng sind und über neun Generationen reichen, was in einer recht kleinen Gemeinschaft eine Vielzahl von Menschen umschließt, werden auch bei diesen Festen scheinbar völliger Enthemmung genaustens eingehalten.

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Keinesfalls wollen oder können die Autoren der Auffassung widersprechen, dass das Trinken von Alkohol in unserer und in vielen anderen Kulturen der Anlass für eine Art kultureller Auszeit ist, also eine Zeit, in der die üblichen Sitten und Gebräuche nicht gelten. Ob das beim hinduistischen Sakti-Puja ist, wo Angehörige aller Kasten, die einander sonst nicht einmal berühren dürfen, zeremoniell aus einem Becher trinken. Oder bei den auch in der Bibel erwähnten Opferfesten für Baal, bis hin zu den besonderen Gepflogenheiten zur Karnevals- und Fastnachtszeit – häufig wird während kulturell definierten Auszeiten Alkohol getrunken. Interessanterweise sind die Sitten ja nur so lange aufgehoben, wie der Alkohol wirkt. Und danach ist alles wieder hübsch so, wie es sein soll.

Das Buch endet mit einer ausführlichen Analyse, welche Rolle der Alkohol bei der Unterwerfung der Ureinwohner Nordamerikas durch weiße Siedler spielte. Die Forscher argumentieren überzeugend, dass der Alkohol, den die Völker Nordamerikas vorher kaum kannten, vermutlich mindestens so viele Tote verursacht hat wie die Gewehrkugeln.

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Das Buch, im Original "Drunken Comportment", stammt von 1969, ich kannte es als Psychiater schon ­lange, es ist ein Klassiker der Suchtliteratur. Jahrelang ging ich davon aus, dass sich diese Erkenntnisse schon irgendwann durchsetzen würden. Ich fühlte mich wie jemand, der nach langem Betrachten die Lösung eines Bilderrätsels gefunden hat und nun immer sofort diese Lösung sieht. Ich konnte diese Erkenntnisse nicht mehr vergessen, sie konnten auch nicht wissenschaftlich widerlegt werden. Im Gegenteil: Aktuelle Studien mit sogenanntem Placebo-­Alkohol bestätigten die Argumente des Buchs. Menschen, die alkoholfreie Getränke konsumierten, die aber so aussahen und schmeckten wie alkoholische Getränke, waren danach genauso motorisch geschickt wie vor dem Trinken. Aber ihr Verhalten hatte sich genau so verändert, wie sie es von ihrem eigenen Alkoholkonsum erwarteten: Sie waren lauter, unverschämter, aggressiver.

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Infobox

Craig McAndrew, Robert B. Edgerton: Betrunkenes ­Betragen. ­Eine ethnologische Weltreise. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein. Kiepenheuer & Witsch 2024, ­304 Seiten, 24 Euro.