"Tut mir leid, aber da war ich betrunken." In den Tagen nach den Erntedank- und Oktoberfesten wird dieser Satz wohl öfter zu hören sein. Es gibt Sätze, die tief in unserer Kultur verankert sind. Und je älter sie sind, desto wahrer fühlen sie sich an. Die Überzeugung, dass Alkohol die Psyche enthemmt, ist geradezu biblischen Alters. Paulus schreibt in der Bibel: "Und betrinkt euch nicht, denn das führt zu einem zügellosen Leben . . ." Selbst das deutsche Strafgesetz erkennt für Taten unter Alkoholeinfluss eine verminderte Schuld oder spricht sogar von Schuldunfähigkeit. Doch ist das wissenschaftlich belegt? Wie kann man der psychischen Wirkung des Alkohols auf den Grund gehen, ohne in kulturell geprägte Denkmuster zu verfallen?
Diesen spannenden Fragen haben sich vor etlichen Jahren Craig MacAndrew und Robert Edgerton verschrieben und ihre Erkenntnisse in dem Buch "Betrunkenes Betragen" veröffentlicht. Die beiden sind Anthropologen und untersuchen kulturelle Phänomene. Wie wird in verschiedenen Gesellschaften gekocht, wie geheiratet, wie gestritten? Nun stellten sie sich die Frage: Wie gleich oder wie unterschiedlich verhalten sich die Menschen in den verschiedenen Kulturen, wenn sie betrunken sind? Reagiert die Psyche auf Alkohol im Prinzip immer nach demselben Muster? Alkohol wirkt sich auf das Nervensystem identisch aus – überall auf der Welt, durch die Jahrhunderte hindurch: Der Gleichgewichtssinn wird beeinträchtigt, die motorische Koordination fällt schwer – das betrifft die Gliedmaßen wie die Zunge – und schließlich schlafen die Menschen ein.
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Aber wie wirkt sich der Alkohol auf die Psyche aus? Es ist ja schon interessant, dass die gleiche Menge Alkohol unterschiedlich wirken kann, abhängig von Anlass und Umgebung. So werden die Gäste auf einem Empfang im Ministerium selten dieselben Lieder singen, die sie mit gleichem Blutalkoholwert im Stadion anstimmen würden. Und wenn ein Mann in einer Bar an drei Tagen hintereinander vier große Bier und vier Doppelte trinkt, am ersten Tag danach weint, am zweiten anschließend einschläft und am dritten sexuell überaus interessiert wirkt, so führen wir das stets auf seine Betrunkenheit zurück. Dabei sind diese drei Verhaltensweisen doch psychologisch betrachtet völlig verschieden.
Könnte es also sein, dass die Wirkungen von Alkohol kulturell beeinflusst sind und dass die Zuführung von Ethanol zur menschlichen Psyche nicht wie ein chemisches Experiment mit dem immer selben Ausgang funktioniert?
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Craig McAndrew, Robert B. Edgerton: Betrunkenes Betragen. Eine ethnologische Weltreise. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein. Kiepenheuer & Witsch 2024, 304 Seiten, 24 Euro.
Sehr geehrter Herr Hein, ich…
Sehr geehrter Herr Hein,
ich frage mich schon seit Jahrzehnten, wieso Trunkenheit und dabei begangene Delikte in Deutschland so unterschiedlich beurteilt werden. Betrunkene Autofahrer werden (m.E. zu Recht) hart bestraft, aber wenn jemand betrunken jemanden zusammenschlägt - sogar mit Todesfolge - wird ihm u.U. Schuldunfähigkeit bescheinigt und er kommt ungestraft davon. M.E. müsste das Gesetz klar signalisieren: Wenn man anderen Leid antut / eine Straftat begeht, kann Alkoholgenuss k e i n e Entschuldigung sein, sondern der Täter wird entsprechend bestraft.
Warum wird das Gesetz nicht dementsprechend geändert? Ist die Mehrheit der Deutschen wirklich der Meinung, dass die Opfer von alkoholisierten Tätern halt Pech gehabt haben, die Täter aber Nachsicht verdienen? Jemand, bzw. eine einflussreiche Institution / Bewegung sollte eine solche Gesetzesänderung unbedingt anstoßen!
Mit freundlichen Grüßen
Eleonore Vilter
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