Abfahrt des ersten Eisenbahnzuges 'Adler'  von Nürnberg nach Fürth
Am 7. Dezember 1835 fuhr der "Adler" pünktlich um 9 Uhr von Nürnberg nach Fürth
ullstein bild
Geschichte der Eisenbahn
Wie viel Poesie steckt im Bahnfahren?
Wir beschweren uns über die unpünktliche Bahn? Früher klagten Menschen über ihre Pünktlichkeit! Ein amüsanter Blick in die Eisenbahngeschichte
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
19.07.2024
3Min

Von dem jungen Berliner Historiker Niklas Maria Weber habe ich viel über die Geschichte des Zugfahrens gelernt. Vor kurzem hat er seine Doktorarbeit mit dem Titel "Die Gesellschaft der Eisenbahn. Klasse, Geschlecht und ‚Rasse‘ auf der Eisenbahnreise des 19. Jahrhunderts" eingereicht. Hier ist nicht der Ort, seine Forschungsergebnisse in Gänze vorzustellen. Vor allem das, was er über rassistische Reglements herausgefunden hat, ist so ernst und bitter, dass es mehr Platz und Expertise bräuchte. Deshalb konzentriere ich mich auf drei Einsichten, die mich erheitert haben.

Erstens: Die beste und menschlichste Technik ist immer diejenige, die soeben abgelöst worden ist; entsprechend ist die schlimmste, menschenfeindlichste Technik immer diejenige, die sich gerade durchsetzt. Nicht wenige versuchten den Geschwindigkeitsgewinn, den die Eisenbahn brachte, als Gefahr darzustellen. Dabei unterschlugen sie, dass schon die Postkutschen, Diligencen, Stage-Coaches, Eilwagen, Schnellposten und Dampfschiffe erhebliche Beschleunigungen gebracht hatten. Die Postkutschenromantik, die mit dem Siegeszug der Eisenbahn einsetzte, war eine nachträgliche Verklärung, unehrlich und auf reaktionäre Weise snobistisch. Lustig beziehungsweise lächerlich ist, wie manche Eisenbahn-Kritiker die neue Schnelligkeit und Pünktlichkeit als "Poesie-Verlust" deuten wollten.

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Zweitens: Die Eisenbahn war eine Nivellierungs- und eine Differenzierungsmaschine. Vor allem der Adel erlebte die Eisenbahn auf das Schmerzlichste als Gleichmacherin. Nun nahmen alle dieselbe Strecke, hielten an denselben Stellen, erreichten gemeinsam das gleiche Ziel. Zudem brachte die Eisenbahn Menschen aus den unterschiedlichen Ständen und Klassen einander viel zu nahe. Auch die Armen konnten jetzt reisen, und zwar im selben Verkehrsmittel. Deshalb wurden bald verschiedene Tarife und Abteilungen erfunden (zum Beispiel Stehwaggons ohne Dach). Wirtschaftlich ergab vor allem die erste Klasse wenig Sinn. Sie wurde kaum genutzt und blieb defizitär. Aber sie schützte die Reichen vor den Zumutungen des demokratisierten Reisens. Ebenfalls neu und unerhört war, dass jetzt Frauen in großer Zahl allein zu reisen begannen. Das war für sie eine Befreiung, führte aber nicht selten zu Belästigungen. Jenseits der engen Regeln der damaligen Gesellschaft konnten in den engen Zugabteilungen erotische Kontakte angebahnt werden. Nicht immer wollte die Frauen dies. Deshalb wurden Damen-Coupés eingerichtet. Zu ihrem Schutz. Oder zu ihrer Disziplinierung?

Drittens: Gesellschaftliche Bedürfnisse verändern sich mit der Zeit. Während die Eisenbahn im 19. Jahrhundert neue Formen der Begegnung von Mensch zu Mensch, reich und arm, männlich und weiblich eröffnete, wird heute nichts so bemüht vermieden wie das Knüpfen von "Reisebekanntschaften". Denn die Mehrheit der Bahnfahrer ist beruflich unterwegs. Deshalb schwärmen so viele davon, wie gut sie in der Bahn arbeiten könnten (das gelegentliche Nickerchen geben sie weniger leicht zu). Sie möchte nur nicht gestört werden. Kopfhörer, aber auch Großraumabteile (die die Sechser-Abteile fast vollständig ersetzt haben) helfen dabei.

Eigentlich spricht man nur noch miteinander, wenn Durchsagen von katastrophalen Verspätungen einen Anlass bieten. Dann wird plötzlich aus all den isolierten Individual-Pendlern eine heitere bis sarkastische bis zornige Schicksalsgemeinschaft. Ich überlege, wie ich beim nächsten Mal meine Mitreisenden dazu anregen könnte, die sich ausbreitende Unpünktlichkeit mal als Poesie-Gewinn zu verbuchen.

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Für mich war es Poesie🚂💺
Mit der Bahn bin ich in den 1980er Jahren regelmäßig gefahren. Damals wegen einer Ausbildung in Köln wöchentlich in die Eifel zu den Eltern. Es funktionierte damals wunderbar, etwas voller, und auch lauter, wurde es lediglich wegen den damals Wehrpflichtigen die ebenfalls an den Wochenenden gerne in die Heimat fuhren. Nach vielen Jahrzehnten mit dem Auto, fuhr ich dann erstmals 2019, aufgrund einer schweren Erkrankung als Schwerbehinderte, zusammen meiner Mutter mit der Bahn. Wir fuhren von Düsseldorf bis Bergen(Rügen). Online hatte ich einen Zug gewählt, der ohne Umstieg durchfuhr, Sitzplätze in der ersten Klasse. Zusätzlich buchte ich eine Hilfe durch die Bahnmitarbeiter wegen der Behinderung.
Jetzt zur Poesie. Es hatte sich nichts, rein garnichts verändert. Der Schaffner in seiner dunklen Uniform, die dunkelblaue Kappe, rot abgesetzt. Im Zug dann erneut das Dejavue, die gleichen Sitze, Schiebefenster, Netze, einfach alles. Ich fühlte mich um Jahrzehnte zurückversetzt, aber ein schönes Gefühl. Obwohl wir mit einem Regionalzug fuhren, sind pünktlich und guter Dinge in Rügen angekommen. Nach unseren 14 tägigen Urlaub, hat uns der gleiche Zug sicher und wohlbehalten zurück gebracht.
Ein schöner Ausflug in die Vergangenheit.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur