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1. Diplom und reale berufliche Erfahrung der Ukrainer
Das ist in der Ukraine sehr verbreitet: Eine Person hat ein Diplom, hat aber ihr ganzes Leben lang in einem ganz anderen Bereich gearbeitet. So geschah es historisch. In den 1990er Jahren herrschte im Land eine schwere Wirtschaftskrise und der Unternehmenssektor nahm gerade erst Gestalt an. Daher wurden Mitarbeiterinnen nicht auf der Grundlage eines Diploms eingestellt, sondern auf der Grundlage von Charaktereigenschaften und angeborenen Talenten. Meine persönliche Geschichte: Ich wollte schon immer Journalistin werden, aber in meiner Kindheit im Donbass war der Journalismus noch völlig unterentwickelt, Journalisten bekamen sehr wenig Geld. Meine Eltern überredeten mich zu einem Jurastudium, um „einen ernsthaften Beruf auszuüben“, und als Journalistin könnte ich ihrer Meinung nach auch ohne Diplom einen Job finden, da ich von Geburt an gut Texte schreibe. Und so geschah es: Bereits im zweiten Studienjahr begann ich im Medienbereich zu arbeiten und blieb dort für immer. Ich habe in der Ukraine mehrere Jobs gewechselt, von der Reporterin zur Chefredakteurin, und niemand hat mich jemals in einem Vorstellungsgespräch nach meiner Ausbildung gefragt. Alle interessierten sich nur für meine echten Joberfahrungen und Arbeitsbeispiele.
In Deutschland läuft alles anders. Hier ist extrem wichtig, welches Diplom man hat. Aus diesem Grund bieten Jobcenter vielen neu zugewanderten Ukrainern Fortbildungskurse oder Jobs entsprechend ihrem Diplom an. Allerdings kann eine solche Person über zehn Jahre praktische Erfahrung in einem ganz anderen Bereich verfügen. Das führt dann zu Konflikten.
2. Ein weiteres Problem: Die Lebensläufe der Ukrainer sind zu reichhaltig und groß
In der Ukraine gibt es eine völlig andere Herangehensweise an Arbeit und Verantwortlichkeiten. In der Regel leistet ein Mensch viel mehr. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass innerhalb der Unternehmen in der Ukraine ein sehr hoher Wettbewerb herrscht. Daher leistet jeder an seiner Arbeit interessierte Mitarbeiter viel mehr, als seine Position vorsieht.
In Deutschland sorgen die Lebensläufe von Ukrainern oft für Verwirrung: Ein Diplom in einem Bereich, praktische Berufserfahrung in einem ganz anderen und die ausgeübten Tätigkeiten können auch einen dritten Bereich umfassen! Als Journalistin habe ich beispielsweise gleichzeitig unsere Profile in sozialen Netzwerken entwickelt und später angefangen, Collagen zu erstellen und Layouts zu entwerfen, obwohl dies einen völlig anderen Beruf impliziert. Meinen ersten Lebenslauf auf Deutsch habe ich vor zehn Jahren als Hausaufgabe an einer Sprachschule geschrieben. Gemäß der ukrainischen Tradition wollte ich prahlen und in all meiner Pracht zeigen, wie viel ich kann und getan habe. Am Ende war mein Lebenslauf fünf Seiten lang! Es war so viel los, dass man das Gefühl hatte, ich könnte von allem ein bisschen machen, aber nichts Besonderes. Mir wurde geraten, meinen Lebenslauf auf zwei Seiten zu kürzen und mich nur auf meine größten Stärken zu konzentrieren. Denn sonst ist in Deutschland nicht klar, was ich genau kann und welche Arbeit wirklich zu mir passt.
3. Übermäßige Kreativität und Initiative
In Deutschland mag die kreative Herangehensweise der Ukrainer an die Arbeit seltsam erscheinen. Es besteht hier ein klares Verständnis darüber, wer genau was tun soll. In der Ukraine gibt es viel Konkurrenz auf dem Markt und einen großen Kampf um Kunden, daher versuchen Unternehmen (ihre Mitarbeiter), so weit wie möglich hervorzustechen und einzigartig zu sein. In der Entwicklung sozialer Netzwerke, in Büros und in der Werbung werden regelmäßig Innovationen eingeführt. Solche Mitarbeiter werden gefördert. Die Ukrainer sind es gewohnt, nicht nur mehr zu leisten, sondern auch einen kreativen Ansatz in die Arbeit einzubringen. In Deutschland kann dies zu Missverständnissen führen, da es von außen als unklare Erfüllung der eigenen unmittelbaren Pflichten erscheinen kann.
4. Zu viele Selbstständige
In der Ukraine sind die Gehälter in Regierungsbehörden sehr niedrig, daher streben die meisten Menschen danach, in kommerziellen Strukturen zu arbeiten. Mit der Entwicklung des Internets und der Informationstechnologie erkannten junge ukrainische Fachkräfte, dass sie selbstständig arbeiten und eigene Gewinne erwirtschaften konnten. Das ukrainische Steuersystem ist im Vergleich zum deutschen sehr einfach: Je mehr man arbeitet, desto mehr bekommt man. Ein eigenes Unternehmen in der Ukraine zu haben ist durchaus profitabel. Darüber hinaus haben die Ukrainer gelernt, über soziale Netzwerke erfolgreich Kunden und Partner zu finden und ihr Geschäft weiterzuentwickeln. Bloggen als einzige direkte Einnahmequelle ist in der Ukraine ebenfalls sehr weit verbreitet.
In Deutschland ist das anders: Hier ist es zuverlässiger, ein Angestellter zu sein. Allerdings sind in dieser Situation häufig Ukrainer, die in ihrem Heimatland selbstständig waren, für eine angestellte Arbeit in Deutschland überqualifiziert. Dies kann auch zu gewissen Konflikten in der Kommunikation am Arbeitsplatz führen.
WAS ZU TUN IST?
Für Ukrainer macht es keinen Sinn, sich umzuschulen, um in Deutschland genau nach ihrem Diplom zu arbeiten: Das wird Jahre dauern. Es wird viel effektiver sein, wenn Ukrainer auch mit Grundkenntnissen in Deutsch oder beispielsweise nur Englisch sofort mit der Arbeit beginnen.
Gleichzeitig sollten deutsche Personalvermittlungen flexibler sein und den Ukrainern Jobs nicht auf der Grundlage ihres Abschlusses, sondern auf der Grundlage ihrer tatsächlichen Berufserfahrung und Stärken anbieten. Im Gegenzug sollten sich die Ukrainer darüber im Klaren sein, dass sie zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn in Deutschland höchstwahrscheinlich eine niedrigere Position einnehmen werden als zu Hause. Und das ist völlig normal, denn sie brauchen Zeit, um die Sprache zu lernen und sich zu integrieren.