Sascha Richter kann nicht Nein sagen. Dabei hat er sich dieses Wort tätowiert: "Nein". Direkt unter dem Kehlkopf steht es, halb verdeckt vom Kragen seines T-Shirts. Aber was soll Richter machen? Wahidulla Rahimi, sein Gastgeber, lässt nicht locker, bietet beharrlich Hähnchenkeulen, Hackbällchen, allerlei Gemüse und Reis an und lädt schon wieder Richters Teller voll. "Tashakor! Tashakor!", sagt Richter. Danke! Danke!
Nach dem vierten Teller ist Wahidulla Rahimi zufrieden, Sascha Richter pappsatt. Die beiden sinken auf die Couch. Richter sagt noch einige Male: "Tashakor!" Für Nüsse, für Tee, für Cola, für Kekse. Immer wieder kommt jemand aus der Küche. Man hat das Gefühl, als wollten Wahidulla Rahimi und seine Familie ihrerseits "Tashakor!" sagen. Danke, Sascha. Danke für die Hilfe. Danke, dass wir hier sein können. In Deutschland. In Sicherheit.
In ihrer Heimat Afghanistan gelten sie als Verräter, als Ungläubige, als Feinde. Seitdem die Taliban im Sommer 2021 die Macht übernommen haben, sind Ortskräfte wie Wahidulla Rahimi auf der Flucht. Als Wache beschützte er 15 Jahre lang ein Bundeswehr-Camp, bevor er sich mit seiner Familie auf den Weg nach Deutschland machen musste. Eine Reise, die die Familie über Monate voneinander trennte. Und die auch jetzt, zwei Jahre danach, noch kein endgültiges Ende gefunden hat, aber zu einem Ort führte, an dem die Familie zur Ruhe kommen konnte. Auch dank Menschen wie Sascha Richter.
Josef Saller
Marlene Pfau
Richter, 32, ein bulliger Mann mit weicher Stimme, rasierten Schläfen und 200-Tage-Bart, kommt häufig an diesen Ort. Hier, am südlichen Stadtrand von Berlin, steht eingerahmt von Reihen- und Einfamilienhäusern das Übergangswohnheim Marienfelder Allee. Richter schaut sich um und sagt: "Ist ein bisschen wie eine Kaserne." 700 Menschen aus einem Dutzend Länder leben hier. Manche nur für ein paar Wochen, bei anderen dauert der Übergang Jahre. Wie bei den Rahimis.
Im Wohnheim leben Wahidulla, seine Frau Anosha und ihre vier Töchter Atefa, Nelofar, Fayeza und Mansora in zwei kleinen Zimmern mit Abstellkammer, Küche und Bad, etwa 50 Quadratmeter. Auf der Couch, auf der Richter vorhin vier Teller Köstlichkeiten verspeist hat, werden abends drei Menschen schlafen.
Sascha Richter würde sich freuen, wenn die Rahimis bald eine Wohnung finden würden, das würde vieles leichter machen. Richter weiß aber: "In Berlin ist das einfach sauschwer." Er kennt das, er wohnt auch hier. Eine halbe Stunde mit dem Rad.
2015 half er in der Flüchtlingshilfe der Bundeswehr
Hier in der Nähe, in Potsdam, ist Richter aufgewachsen. Dass er zur Bundeswehr will, war für ihn früh klar. Sein Vater, sein Onkel, seine Großväter, alle waren beim Militär. Er schlug die Offizierslaufbahn ein, diente in Dresden, Idar-Oberstein, studierte in Hamburg. 2015, mit 24, ging er nach Berlin.
2015 kamen auch Tausende andere Menschen nach Berlin: Flüchtlinge, vor allem aus Syrien. In ganz Deutschland waren es etwa eine Million Menschen. "Eine sehr bewegende und anstrengende Zeit", sagt Richter. Er ackerte, half, organisierte, strukturierte in der Operationszentrale Flüchtlingshilfe der Bundeswehr. Auch am Wochenende, an Feiertagen.
2018 lief seine Dienstzeit ab. Er verlängerte nicht. Er wollte in Berlin bleiben und nicht wieder versetzt werden. Richter begann Informatik zu studieren, schloss sich der Reserve an, wo er bis heute aktiv ist. Für Afghanistan meldete er sich freiwillig. Er selbst freute sich auf den Einsatz. Seine Mutter nicht. Sie sagte zu ihm: "Ich hab dich nicht geboren, damit du sterben gehst."
Ende Oktober 2019 flog Richter nach Afghanistan. Sein Ziel: das Camp Marmal, damals das größte Feldlager der Bundeswehr auf nicht deutschem Boden: zweieinhalb Kilometer lang, anderthalb Kilometer breit, bis zu 5500 Soldaten. Eine Kleinstadt in der Nähe der Großstadt Masar-i-Scharif, der Heimat der Familie Rahimi.
Richter war für alle Ortskräfte im Camp zuständig, etwa 250 Afghanen, die als Übersetzer arbeiteten oder als Wachen wie Wahidulla Rahimi. Richter erstellte Schichtpläne, organisierte Schießübungen für die Wachen, sorgte dafür, dass auch die Beschützer des Camps besser geschützt wurden. Immer wieder war er überrascht von der überbordenden Gastfreundschaft, davon, wie reibungslos die Zusammenarbeit lief. Und manchmal war er enttäuscht, wenn Soldaten die Arbeit der Ortskräfte nicht wertschätzten. Wenn nicht Rücksicht genommen wurde auf Feiertage oder Gebetszeiten. "Viele haben gar nicht gesehen, was sie jeden Tag geleistet haben."
Zu einigen Ortskräften baute er eine tiefere Bindung auf, vor allem zu den Übersetzern. Sie erzählten ihm, was sie umtrieb. Bei Wachen wie Wahidulla Rahimi scheiterte das an der Sprache. Richter war erstaunt, wie groß der Wunsch nach Veränderung im Land bei vielen war. Und er sah die Angst in ihren Augen, als Donald Trump, damals US-Präsident, Anfang 2020 auf Twitter schrieb: "Bring our troops back home." Bringt unsere Soldaten nach Hause.
Die Taliban waren zu dieser Zeit schon auf dem Vormarsch. Alle, die mit den Amerikanern, den Deutschen oder deren Verbündeten zusammengearbeitet hatten, wussten, dass sie in Gefahr waren. Auch Familie Rahimi. Wenn jemand fragte, wo Vater Wahidulla arbeitet, sagten sie immer: im Supermarkt.
Als Sascha Richter im März 2020 im Flieger zurück nach Deutschland saß, blieben Sorgen: Was passiert mit den Ortskräften, wenn alle Sol- daten weg sind? Werden die, die zurückbleiben, sicher sein? Das ließ Richter nicht mehr los. Er fand das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte. Ein Verein, der sich für die Ortskräfte einsetzt und in dem viele Soldaten aktiv sind. Und von da an auch Sascha Richter.
Richter lebte sein Leben, machte mit seinem Studium weiter, verliebte sich, sah, wie die internationalen Soldaten aus Afghanistan abgezogen wurden und die Taliban vorrückten. Er meldete sich wieder freiwillig für einen Auslandseinsatz, diesmal in Mali. Davon zwei Wochen Quarantäne im Hotel, Corona eben.
Vom Hotelzimmer aus musste er zusehen, wie die Taliban Kabul umstellten, wie sie Kabul einnahmen. Wie die Bundeswehr eilig eine Evakuierungsoperation startete, um deutsche Staatsbürger, Ortskräfte und andere gefährdete Afghanen auszufliegen. Wie sich Zehntausende auf den Flughafen drängten auf der Suche nach Rettung. Manche von ihnen klammerten sich ans Fahrwerk startender Maschinen und stürzten in die Tiefe.
Die Töchter versteckten sich
Wahidulla Rahimi und seine Familie standen in diesen Tagen im August 2021 am Flughafen in Kabul, das Nötigste am Körper, ihr Leben in Taschen gepackt. Die deutschen Behörden hatten ihnen ein Visum ausgestellt. Aber die beiden ältesten Töchter hatten keine Pässe. Nicht ungewöhnlich in Afghanistan.
Die Familie bekam gesagt, dass die anderen erst mal nach Deutschland ausreisen sollten. Von dort aus wäre es leichter, ihre beiden Töchter nachzuholen. Das Gegenteil war der Fall. Mit etwas Glück waren Nelofar und Atefa zwar schnell an ihre Pässe gekommen. Aber die Lage am Flughafen war so chaotisch geworden, dass sie nicht mehr durchkamen.
Die beiden Mädchen, damals 16 und 17 Jahre alt, harrten vier Tage und vier Nächte aus. Bis es an einem Nachmittag einen lauten Knall tat. Körper flogen durch die Luft, Menschen schrien, stoben auseinander, trampelten sich tot. Ein Selbstmordattentäter hatte sich in die Luft gesprengt. Fast 200 Menschen starben, darunter mehrere US-Soldaten. Wenn Atefa von diesem Tag erzählt, sagt sie nur: "Bumm! Wir haben geweint. Wir hatten Angst."
Sascha Richter verbrachte diese Tage am Laptop, versuchte mit seinen Kollegen vom Patenschaftsnetzwerk, Evakuierungen durch die Bundeswehr zu organisieren und mit den Leuten vor Ort in Kontakt zu kommen, ihnen Dokumente oder zumindest sichere Unterkünfte zu beschaffen. Irgendwann brach Richter nach Mali auf und musste loslassen. So gut es ging.
Nelofar und Atefa versteckten sich in den folgenden Monaten, verbrachten die meiste Zeit bei Nachbarn im Keller. Die Taliban durchkämmten die Straßen auf der Suche nach Menschen wie ihnen. Einmal wurde die 17-jährige Atefa aufgegriffen, die Taliban fragten sie: "Wo ist dein Mann?" Atefa weint, wenn sie davon erzählt. Sie weiß, was die Frage für sie hätte bedeuten können: eine Zwangsheirat mit einem Taliban.
Ihre Eltern und die beiden Schwestern in Deutschland starrten auf ihre Handys in der Hoffnung auf Lebenszeichen und gute Nachrichten. Häufig weinten sie, lagen wach, beteten. Das Patenschaftsnetzwerk betreute die Familie in dieser Zeit. Sascha Richter verfolgte den Fall vom Laptop in Mali aus.
Tränen der Erleichterung
Nach monatelangem Warten bekamen Nelofar und Atefa einen Anruf. Sie sollten sich bereithalten. Ein Auto würde kommen, sie nach Pakistan fahren. Von Islamabad würden sie nach Deutschland geflogen werden. Genau das passierte auch. Als die beiden in Düsseldorf landeten, riefen sie ihre Mutter an: "Wir sind in Deutschland!" Tränen der Erleichterung.
Sascha Richter, der sich – zurück in Berlin – ehrenamtlich um viele Ortskräfte kümmerte, besuchte die Familie. Er erkannte den Mann mit dem weißgrauen Haar und dem Schnauzbart, dessen Gesicht ihm flüchtig aus Afghanistan bekannt war. Wieder Tränen, wieder Erleichterung.
Ein Happy End. Doch das gab es nicht bei allen Ortskräften. Richter weiß von Fällen, bei denen Kinder, Geschwister von Ortskräften gefoltert wurden. Rund die Hälfte der 250 Ortskräfte, für die Richter zuständig war, konnte evakuiert werden. Manchmal denkt er an jene, zu denen es keinen Kontakt mehr gibt. Aber er versucht, sich darauf zu konzentrieren, dass er und seine Kollegen so vielen Leuten helfen konnten und das bis heute tun.
Ohne Arbeit kein Geld, ohne Geld keine Wohnung
Die Integration der Menschen ist ihm wichtig. Auch wenn das manchmal schwierig ist. Das liegt zum einen am Krieg in der Ukraine, der alles andere überstrahlt und Aufmerksamkeit, Spendengelder und Sozialarbeiter bindet. Und auch Wohnraum, Jobs und Wortschatz fallen nicht vom Himmel. Und ohne Sprache keine Arbeit, ohne Arbeit kein Geld, ohne Geld keine Wohnung.
Auch bei den Rahimis ist das ein Problem. Vater Wahidulla hat erst in Deutschland schreiben und lesen gelernt. Mutter Anosha war Lehrerin, Physik, Chemie, Biologie. Mittlerweile hat sie ihre A2-Prüfung abgelegt. Für einen Job reicht das nicht. Sie würden gerne arbeiten. Egal was. Anosha fühlt sich mies, dass andere Leute die Grundsicherung mitfinanzieren. Wahidulla würde gern als Verkäufer arbeiten, als Elektriker, irgendwas. Er möchte gebraucht werden. Fragt man ihn nach Hobbys, sagt er "Schlafen!" und lacht, um nicht zu weinen.
Richter vermittelt den Rahimis Menschen, die ihnen helfen, Sozialarbeiter und Übersetzer, er geht mit ihnen Eis essen, zeigt ihnen, was Lebensläufe sind. Auch seine Freundin haben sie schon kennengelernt. Einmal im Monat organisiert Richter ein "Sprachcafé", bei dem sich deutsche und afghanische Familien in der Unterkunft in Marienfelde treffen und austauschen. Die Rahimis sind immer da.
Camp bei Masar-i-Scharif beschützt
Die vier Töchter besuchen Willkommensklassen, sprechen Deutsch. Ihnen allen fällt es viel leichter als ihren Eltern. Fayeza, die Zweitjüngste, ist die selbstbewussteste der Schwestern. Sie spricht bemerkenswert gutes Deutsch, übersetzt für ihre Eltern, macht gerade ein Praktikum beim Patenschaftsnetzwerk, will Kickboxen lernen. Ihr Traum: Soldatin werden oder Polizistin. Ihre kleine Schwester Mansora möchte Ärztin werden, ihre größeren Schwestern Nelofar und Atefa Zahnärztin und Krankenschwester. Im Afghanistan der Taliban unmöglich.
Fragt man die Töchter, was sie an ihrer Heimat vermissen, sagen sie: "Nichts!" Fragt man Vater Wahidulla, sagt er: "Meine Mutter, meinen Vater, meine Arbeit, unser großes Haus."
Die 16-jährige Fayeza zeigt ein Video auf dem Handy ihrer Mutter. Ein Rundgang durch ihr Haus im Zentrum von Masar-i-Scharif, geschmückte, großzügige Zimmer, prunkvolle Vitrinen. Zwei Minuten unwiederbringliche Vergangenheit. Kein Vergleich zu dem, was sie jetzt haben: 50 Quadratmeter. Aber diese 50 Quadratmeter sind in Berlin und nicht in Masar-i-Scharif. Das ist das Wichtigste.
Schaut Sascha Richter auf den Sommer 2021 zurück, ist er vor allem eins: enttäuscht von der Politik. "Wie betäubt" habe er die Handelnden in diesen Tagen erlebt. Verantwortung wurde hin- und hergeschoben. Die Bürokratie setzte so viele Hürden, dass viele Menschen nicht evakuiert werden konnten. Kein Pass, keine Evakuierung. Zudem durfte nur die sogenannte Kernfamilie evakuiert werden. Ortskräfte, Ehepartner und minderjährige Kinder. "Manche verstecken sich seit zwei Jahren."
Wenn sich die Evakuierung der beiden Rahimi-Töchter noch etwas verzögert hätte, wäre auch Atefa, die älteste Tochter, 18 geworden. Sie hätte kein Visum erhalten und wäre wohl nie nach Deutschland gekommen.
Vor wenigen Tagen hat Atefa Sascha Richter zu ihrer Verlobung eingeladen. Sie heiratet einen Mann aus Hamburg, den sie kennengelernt hat. Auch ein Afghane. Wo sie feiern, fragt Richter. In dem Zimmer mit der Couch, sagt Atefa. "Wird eher eine kleine Feier."
Das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte betreut derzeit bundesweit mehr als 200 Ortskräftefamilien. Ehrenamtliche Paten wie Sascha Richter unterstützen die Familien bei Alltagsfragen. Was macht man, wenn man Zahnschmerzen hat? Was bedeutet dieses Formular? Oder: Wieso wird mein Berufsabschluss nicht anerkannt? Fachleute des Netzwerks helfen zudem bei Rechtsfragen oder psychischen Problemen.