Seit einem halben Jahr sind die radikalislamischen Taliban in Afghanistan an der Macht. Rund 28 000 Afghanen haben seitdem eine Zusage erhalten, nach Deutschland einreisen zu dürfen. Unter ihnen sind Ortskräfte, die als Übersetzer, Fahrer oder Beraterinnen für deutsche Organisationen tätig waren, sowie Menschenrechtlerinnen, Aktivisten und Journalistinnen und deren Angehörige. Nur rund ein Drittel von ihnen hat es bislang nach Deutschland geschafft. Tausende Menschen warten weiter auf eine Evakuierung. Viele leben in ständiger Angst, von den Taliban aufgegriffen, gefoltert oder ermordet zu werden.
Sebastian Drescher
Sie seien nicht vergessen, versicherte die neue Außenministerin Annalena Baerbock im Dezember. Man wolle mit Hochdruck daran arbeiten, die Menschen in Sicherheit zu bringen. Aber weil es kaum Flüge aus Afghanistan gibt und Deutschland vor Ort keine Visa ausstellt, bleibt ihnen meist nur der beschwerliche Weg über die Nachbarländer, etwa über Pakistan. Zwar hilft Deutschland bei der Ausreise auf dem Landweg, aber eine unbürokratische Aufnahme sieht anders aus: Die Bundesregierung sollte die Menschen mit zivilen Maschinen direkt aus Kabul ausfliegen und Visa erst bei Ankunft erteilen.
Noch gravierender ist, dass viele Ortskräfte nicht als Schutzbedürftige anerkannt werden, beispielsweise ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Entwicklungshilfeorganisation GIZ. Eine Zusage erhält nur, wer direkt angestellt war. Honorarkräfte, Berater und Subunternehmer bleiben außen vor. Taliban scheren sich nicht um solche Feinheiten des Arbeitsrechts. Für "westliche Besatzer" tätig gewesen zu sein, gilt als Verrat.
Über hundert ehemalige Regierungsmitarbeiter und Ortskräfte wurden getötet
Wie real die Bedrohung ist, zeigt ein Bericht der Vereinten Nationen. Demnach wurden in Afghanistan seit August über hundert ehemalige Regierungsmitarbeiter und Ortskräfte getötet. Dass das Entwicklungsministerium noch im Januar verlauten ließ, es lägen keine nachprüfbaren Erkenntnisse zur Bedrohungslage der Ortskräfte vor, ist ignorant und beschämend – und spricht nicht dafür, dass die deutsche Politik ihre abwehrende Haltung aufgegeben hat.
So bleiben zivilgesellschaftliche Initiativen für viele Zurückgelassene der letzte Strohhalm. Pro Asyl vermittelt abgelehnten Ortskräften Anwälte, die vor deutschen Gerichten klagen. Die Initiative Mission Lifeline schickt Geld an Familien, die sich vor den Taliban verstecken. Und die Luftbrücke Kabul chartert Busse für die Fahrt über die Grenze nach Pakistan.
So wichtig das Engagement ist: Die Chance auf ein Leben in Sicherheit sollte nicht von privaten Helfern und Spenden abhängen. Der deutsche Staat hat eine Fürsorgepflicht. Er muss ihr endlich nachkommen.