Städel Museum, Frankfurt am Main
Die Erschütterung wachhalten
Der Krieg in der Ukraine schleppt sich auch durch diesen Sommer. Er kriecht voran. Fast könnte man sich an die Nachrichten darüber gewöhnen. Aber das wäre fatal. Kunst und Religion müssen dafür sorgen, dass dies nicht geschieht.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
09.08.2023

Seltsam, über die Kriegspolitik wird in Deutschland gar nicht mehr gestritten. Nicht, dass ich mir die übererregten und unterreflektierten Debatten zurückwünschte, mit denen man hierzulande anfangs auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert hat. Aber dass es jetzt so still ist, verstört mich doch. Gibt es denn nichts mehr zu sagen über Ziele und Strategien, sinnvolle oder gefährliche Unterstützungen?

Als Theologe habe ich dazu nicht übermäßig viel beizutragen. Aber als ich vor wenigen Tagen – es regnete, regnete und regnete – einen alten Katalog aus meinem Bücherschrank nahm, kam mir ein Gedanke, was der Glaube und die Kunst jetzt zu leisten hätten.

Es waren die Grafiken, die Francisco de Goya zwischen 1810 und 1812 über den französischen Angriffskrieg auf Spanien geschaffen hatte. „Los desastres de la guerra“ – „Die Schrecken des Krieges“. Ich glaube, dass es vorher (und nachher) noch nie solche Bilder gegeben hat, die so unverstellt die Grauenhaftigkeiten dargestellt haben, die jeder Krieg hervorbringt. Keine Beschönigung, kein Triumphalismus, kein Pathos. Nur das unvorstellbare Leiden von Menschen, aber auch die unfassbare Grausamkeit, zu der sie plötzlich fähig sind. Schonungslose Ehrlichkeit zeichnet Goyas Bilder aus. Zu ihr gehört die verstörende Wahrheit, dass sich Täter und Opfer nicht immer säuberlich auseinanderhalten lassen. Denn der Krieg entfaltet eine Dynamik, die fast jeden zum Täter werden lassen kann. An diese Bilder kann man sich bis heute nicht gewöhnen. Deshalb sprechen sie unser Herz und unser Gewissen viel intensiver an als die üblichen Nachrichtenbilder.

Oben ist ein Gemälde zu sehen, das (vielleicht) von Goya stammt und den Überfall auf eine Frau darstellt. Es stammt aus derselben Zeit. Wer die Gewalttäter sind, lässt sich nicht sagen. Es ist aber auch nicht entscheidend. Wichtiger ist zu sehen, was sie tun. Sie ringen eine halbentblößte Frau nieder, vor den Augen ihrer Kinder. Das erhobene Messer zeigt: Es gibt kein Mitleid. Im Hintergrund: Kopfüber an Bäumen aufgehängte Menschen. Auch dieses Bild vergisst man nicht so schnell.

Andererseits: Ich höre und lese, dass nicht wenige Kirchengemeinden weiterhin für den Frieden beten, in ihren Gottesdiensten, in besonderen Andachten, manchmal sogar auf kleinen Prozessionen. Auch wenn viel weniger Menschen kommen als noch vor einem Jahr. Aber es ist ein wichtiger Dienst, vielleicht so etwas wie ein christliches Spiegelbild dessen, was Goya damals geleistet hat und zurzeit die ukrainische Literatur leistet: die Erschütterung wachhalten, die Schrecken des Kriegs beklagen, Mitleid wecken für Freunde und Feinde, die Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben.

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" Seltsam, über die Kriegspolitik wird in Deutschland gar nicht mehr gestritten. "

Macht es Sinn, über Dinge zu streiten, die man nicht ändern kann ? Aber Sie haben es richtig erkannt, denn dass nicht mehr laut debattiert wird, bedeutet nicht, dass dies mit irgendeinem Gewöhnungseffekt verbunden sein muss.

" Denn der Krieg entfaltet eine Dynamik, die fast jeden zum Täter werden lassen kann. "
Starke Worte so gelassen ausgesprochen. Allein , um zu beeindrucken.
Sie dürfen auch nachdenken, nicht nur, um andere zu belehren.

Was den Krieg in der Ukraine betrifft, so vergesse ich meine christliche Gesinnung und behaupte : Dieser Krieg hätte schon längst beendet sein können.
Er ist vor allem SINNLOS.

An der Bilddarstellung wird die Aktualität der Kunst sichtbar, denn Gewalt ist wohl über alle Jahrhunderte und Jahrtausende so universell geblieben wie die Liebe.
Es ist auch keineswegs nötig , dass man das Thema auf das Christliche beschränkt.
Außerdem finde ich Ihren Text moralisierend und wenig empathisch.

Vielen Dank für diese kritische Rückmeldung! Es ging mir in dieser Kolumne nur um den Hiinweis, dass Kunst und Glaube zwar nichts direkt zur Lösung dieses Kriegs beitragen (wer kann das schon?), aber darin unverzichtbar sein können, dass sie eben die Erschütterung wach halten. Es tut mir leid, dass Sie dies als moralisierend und unempathisch erlebt haben.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur