Castellucci versus Helling-Plahr: Trotz der Absage an beide Gesetzesentwürfe wurde klar, dass die Gegensätze beider Gruppen überwindbar sind.
Castellucci versus Helling-Plahr: Trotz der Absage an beide Gesetzesentwürfe wurde klar, dass die Gegensätze beider Gruppen überwindbar sind.
Jeeni / photocase
Das hätte man auch früher haben können
Was ist erlaubt bei der Sterbehilfe? Der Bundestag findet keine Antwort, will aber die Suizidprävention stärken. Ein Kommentar.
Tim Wegner
06.07.2023

Über drei Jahre ist es her, dass das Bundesverfassungsgericht einen Satz in seine Entscheidung schrieb, hinter den die Abgeordneten des Bundestages nicht mehr zurückkönnen: "Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen." Damit sind Sterbebegleitung und assistierter Suizid in Deutschland möglich und legal. Die Richterinnen und Richter betonten vor drei Jahren aber auch, dass der Staat das Leben zu schützen habe.

Ein Dilemma, das die Parlamentarierinnen und Parlamentarier auch nach Jahren nicht auflösen konnten. Ja, es war eine nachdenkliche, ruhige Debatte ohne die üblichen Zwischenrufe. Es ging respektvoll zu. Der Fraktionszwang war aufgehoben worden. Aber eine Sternstunde des Parlamentes war es nicht. Dafür hatten die beiden Gruppen zu dürftige Entwürfe vorgelegt.

Die Abgeordneten um Lars Castellucci wollen Menschen davor schützen, sich unter Druck und nicht freiverantwortlich zu Tode zu bringen. Aber ihr Paket ist komplex, viel Redezeit ging für Erklärungen verloren, warum für einige Regelungen doch wieder das Strafrecht hätte bemüht werden sollen. Die Gruppe Helling-Plahr hingegen war einer großen Mehrheit offenbar deutlich zu liberal. Ein Beratungsgespräch, ein paar Fristen - und Ärztinnen und Ärzte sollten ein todbringendes Medikament verschreiben dürfen, sofern Suizidwillige freiverantwortlich sterben möchten. Wer wollte das entscheiden, wer darüber richten, ob ein Mensch freien Willens einen Weg geht, der unumkehrbar ist?

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Und nun? Es wirkt paradox, aber bis auf Weiteres gibt es in Deutschland sehr liberale Regeln zum assistierten Suizid, definiert allein durch das Verfassungsgericht. Das darf so nicht bleiben, denn es gibt gefährliche Grauzonen. Darunter fällt die Frage, woher tödlich wirkende Medikamente kommen sollen und wer über sie verfügt. Es besteht die Gefahr, dass mit der Zeit ein Gewöhnungseffekt eintritt und Listen mit Menschen kursieren, die ihre Mission darin erkennen, Suizidwillige in den Tod zu begleiten. In einer älter werdenden Gesellschaft ist ein Zeitgeist Gift, der Menschen einflüstert: Du musst, du sollst doch den anderen nicht zur Last fallen.

Die Abgeordneten bleiben also gefragt. In einigen Beiträgen wurde heute deutlich, dass die Gegensätze zwischen den Gruppen durchaus überbrückbar sind. Niemand möchte den Suizid als neue gesellschaftliche Normalität akzeptieren. Und wohl kaum jemand möchte - andererseits - den Leidensweg von Menschen, die schwer krank und erkennbar am Ende des Lebens angekommen sind, verlängern. Genau für solche Fälle hatte auch die Gruppe Castellucci Verfahren vorgesehen, die kurze Fristen ermöglicht hätten.

Darauf wies die Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker für die Gruppe Castellucci auch hin. Leidenden wolle man helfen, ja, aber man rede doch auch über die Menschen, die insolvent und deshalb verzweifelt seien, die in einer Beziehungskrise steckten oder auf einen teuren Heimplatz angewiesen seien. Sie warnte davor, dass solche Menschen vorschnell einen Ausweg im assistierten Suizid sehen könnten. "Auch wer auf Hilfe angewiesen ist, wahrt seine Würde", sagte Winkelmeier-Becker und es schien, als brächte sie viele Abgeordnete mit diesem Satz ins Grübeln. Diese Argumente sollte die Gruppe um Lars Castellucci hochhalten, den eigenen Antrag aber einfacher und klarer gestalten – dann scheint eine Mehrheit für eine verfassungskonforme Regelung endlich möglich.

Eine gute Nachricht gab es dann doch noch: Mit überwältigender Mehrheit stimmte das Parlament einem Antrag zu, die Suizidprävention zu stärken. Bis zum Jahreswechsel soll die Bundesregierung dazu ein Konzept vorstellen. Das hätte der Bundestag aber auch viel früher haben können, nämlich schon vor drei Jahren. In der Debatte hat es in der ganzen Zeit schließlich nie an Stimmen gemangelt, die mahnten, Regeln für den assistierten Suizid setzten eine verbesserte Suizidprävention voraus.

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Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, bietet die Telefonseelsorge Hilfe. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch eine Beratung über E-Mail ist möglich. Eine Liste mit ­Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention unter www.suizidprophylaxe.de.

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