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"Beide Gesetzesentwürfe werfen Fragen auf"
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie plädiert bei der Regelung des assistierten Suizids für mehr Zeit und Gespräche. Suizidprävention, Beratungsangebote und Palliativmedizin sollte die Politik aber sofort stärken, fordert er im Interview.
Tim Wegner
03.07.2023

Sind Sie persönlich schon einmal mit dem Wunsch eines Menschen konfrontiert gewesen, der nicht mehr leben möchte?

Ulrich Lilie: Ich habe häufig an den Betten von verzweifelten Menschen gesessen. Die fachliche Regel lautet: Wir müssen annehmen und ernst nehmen, dass es Menschen gibt, die ihre Situation als unerträglich einschätzen. Wenn das gelingt, kann man über viel sprechen, und zwar vertrauensvoll. Oft haben wir in Gesprächen gelernt, dass ein Mensch"so" nicht mehr leben wollte. Also überlegten wir zusammen, was wir an den Umständen ändern können. Und dann wird es konkret und es geht, zum Beispiel, um eine bessere Schmerztherapie. Bis heute hilft mir diese Erfahrung in den Diskussionen um den assistierten Suizid.

Inwiefern?

Ich beobachte in der Debatte einen Wunsch nach Eindeutigkeit, nach Schwarz oder Weiß, für das Leben – oder für den assistierten Suizid. Aber das geht am wahren Leben vorbei. Die eigentliche Frage lautet: Wie werden wir kompetent darin, Menschen zu helfen, durch den Graubereich zwischen diesen beiden Polen zu navigieren? Und da ist mein Rat: Das braucht viel Geduld, viel Zuhören, Annehmen und Gelten-lassen-Können, was eben so ist.

Thomas Meyer/Ostkreuz

Ulrich Lilie

Pfarrer Ulrich Lilie (geboren 1957) ist seit 2014 Präsident der Diakonie Deutschland, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung und seit 2023 Vize-Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW). Früher arbeitete Lilie unter anderem als Krankenhausseelsorger und Gemeindepfarrer mit dem Zusatzauftrag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus.
Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Am Donnerstag stehen zwei Gesetzesentwürfe zur Abstimmung im Bundestag. Was meinen Sie: Welcher der beiden wird am ehesten dem Anspruch gerecht, Menschen dabei zu helfen, sich durch diesen Graubereich zu navigieren?

Wir haben als Diakonie gemeinsam mit der EKD und 40 Fachverbänden immer wieder gesagt, dass es zuallererst ein Suizidpräventionsgesetz und einen massiven Ausbau der palliativen Versorgung braucht. Da können wir eine Menge von Österreich lernen. Auch dort verfügte das Verfassungsgericht eine Neuregelung. Die hat die Politik in Wien auch umgesetzt – aber gleichzeitig Palliativversorgung und Suizidprävention verbessert und mit mehr Geld ausgestattet. Ich finde, beide Gesetzesentwürfe bei uns im Bundestag haben einen Pferdefuß, wenn es heißt: Wenn ihr bessere Suizidprävention wollt, müsst ihr euch für unseren Entwurf entscheiden. Das ist keine glückliche Kombination. Davon abgesehen werfen beide Gesetzesentwürfe erhebliche Fragen auf.

"Der assistierte Suizid darf keine Normalität werden"

Welche meinen Sie?

Ich habe in dieser Debatte ständig dazugelernt und tue es noch. Entscheidend ist für mich: Wenn wir versuchen, etwas über ein standardisiertes Verfahren zu regeln, schaffen wir - vielleicht ungewollt - immer eine neue Normalität. Wir kennen das aus einem ganz anderen Bereich, nämlich vom Paragraf 218. Da hat die Beratungsauflage zu einer gewissen Normalisierung geführt. Um es klar zu sagen: Das sind zwei grundverschiedene Themen, die nicht vergleichbar sind, und dass Abtreibung heute weitgehend straffrei möglich ist, finde ich in Ordnung.

Aber?

Ich möchte nicht, dass wir beim assistierten Suizid eine vergleichbare Dynamik erleben. Es wäre besser, jetzt erst mal das zu tun, worin sich alle einig sind: Wir müssen die Suizidprävention und die palliative Versorgung deutlich ausbauen. Und dann lasst uns danach in Ruhe weiter diskutieren, wie wir das nächste Ziel, das auch alle eint, erreichen: dass der assistierte Suizid keine Normalität wird. Ich bin skeptisch geworden, dass das mit dem Schwert des Strafrechts zu regeln ist. Und sehr skeptisch, ob wir es mit Hilfe von Begutachtungen schaffen, die beide Gesetzesentwürfe vorsehen. Warum brauchen wir vor der Sommerpause nun ein Hauruck-Verfahren?

Der assistierte Suizid ist seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 26.2.2020 sehr liberal geregelt. Wie hat sich das auf Einrichtungen der Diakonie ausgewirkt?

In den vergangenen Jahren wurden etwa 600 assistierte Suizide in Deutschland dokumentiert. Das ist kein Dammbruch. In der Diakonie haben wir einen Prozess eingeleitet. Wir empfehlen in einer Handreichung, dass sich die Einrichtungen und ihre Mitarbeitenden fragen, wie sie vorgehen möchten, wenn Menschen nach Suizidassistenz fragen. Es darf niemals so sein, dass Mitarbeitende, die einen assistierten Suizid ablehnen, gegen ihren Willen involviert werden. Wenn eine Einrichtung entscheidet, assistierte Suizide auszuschließen, muss man das in den Verträgen mit den Bewohnern regeln. Wer das will, nimmt allerdings immer etwas Schwieriges in einer belastenden Situation in Kauf, nämlich einen Beziehungsabbruch.

Das müssen Sie bitte erklären!

Menschen müssten noch mal umziehen, sich in andere Hände begeben, wenn sie einen assistierten Suizid in Betracht ziehen. Also: Jede ethische Entscheidung hat einen Preis. Wichtig ist uns, dass sich die Verantwortlichen in den Häusern mit den Mitarbeitenden zusammensetzen. Das Thema geht alle Beteiligten an. Es freut mich sehr, dass sich viele Häuser auf diesen Weg der gemeinsamen Entwicklung einer Haltung gemacht haben. Wir sehen dabei eine Bandbreite, manche Einrichtungen haben eine restriktive Linie gefunden, andere haben beschlossen, ihre Bewohner bei einem Wunsch nach einem assistierten Suizid auf keinen Fall allein zu lassen. Und wieder andere wollen die Abstimmung im Bundestag abwarten.

Wie eine Beratungsstruktur aufbauen, wenn schon jetzt Therapeuten fehlen?

Ich möchte noch einmal ganz konkret nachfragen: Angenommen, Mitarbeitende einer diakonischen Einrichtung lehnen den assistierten Suizid aus Glauben und Gewissen heraus ab. Können sie sich einem Prozess, in dem ein ihnen anvertrauter Mensch sterben möchte, entziehen?

Eindeutig ja! Niemand darf gegen sein Gewissen genötigt werden, bei etwas mitzuwirken, was sie oder er vor dem eigenen Gewissen, vor Gott oder den Mitmenschen nicht verantworten kann.

Die Abgeordneten stehen vor einer sehr schwierigen Entscheidung. Niemand kann wirklich beurteilen, wie sehr schwerstkranke Menschen leiden. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass Suizid als etwas Normales gilt …

Da sind wir uns aber doch einig, eine Normalisierung will keiner! In einer älter werdenden Gesellschaft wäre das eine fatale Entwicklung. Alle Menschen, die in Not sind, müssen schnell kompetente Hilfe erhalten. Niemand soll Angst vor einem unmenschlichen Sterbeschicksal haben müssen. Das ist die erste Aufgabe. Ich finde, die vorgeschlagenen Konzepte, die sicherstellen sollen, dass ein Mensch wirklich freiverantwortlich entschieden hat, sterben zu wollen, werfen weiterhin Fragen auf. Wer leistet diese Beratungen? Kommen die Leute auch mit der notwendigen Zeit zu uns in die Häuser? Wie sind sie qualifiziert? Wir sollten uns die Zeit nehmen, diese und viele anderen Fragen befriedigender zu beantworten, bevor ein Gesetz beschlossen wird. Wir haben ja jetzt schon einen erheblichen Mangel an Psychotherapeuten und Psychiaterinnen. Wenn Sie depressiv erkrankt sind, warten sie bis zu einem Jahr auf eine Therapie. Ich bin skeptisch, dass wir zügig eine gute Beratungsstruktur aufbauen können.

Haben Sie eigene Ideen?

Ja, denn ich bin auch besorgt, wie sehr allein die Berufsgruppe der Ärztinnen und Ärzte bei dieser Diskussion im Blick ist. Das gilt besonders für die Gruppe um die Abgeordneten Katrin Helling-Plahr und Renate Künast. Erhalten sie eine Mehrheit, werden Ärztinnen und Ärzte die Rezepte für ein todbringendes Medikament ausstellen, nach einer Beratung. Ich halte viel mehr davon, bei so einer schwierigen Beurteilung die Kompetenz ganzer Teams stärker in den Vordergrund zu stellen, die einen Menschen lange kennen und begleiten. Das ist besser als eine einsame Entscheidung von Fachleuten. Wie will ich da entscheiden, ob jemand freiverantwortlich entschieden hat, sterben zu wollen – nach einem Gespräch von vielleicht 45 Minuten? Diese Gesetzesentwürfe sind sehr abstrakt gedacht, wenig von der Lebenswirklichkeit der Menschen her.

Es klingt so, als wäre Ihnen das Liebste, wenn alles so bleibt, wie es ist ...

Nein, das sage ich nicht, wir sollten Dinge regeln! Die Frage ist nur, wie gut wir das machen. Darüber sollten wir erst mal weiter nachdenken und uns die Zeit dafür nehmen. Und den ersten Schritt vor dem zweiten machen: erst eine substanzielle Verbesserung bei Suizidprävention und Palliativmedizin und dann eine Regelung, die sich an sehr unterschiedlichen Situationen und Lebensumständen orientiert.

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Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, bietet die Telefonseelsorge Hilfe. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch eine Beratung über E-Mail ist möglich. Eine Liste mit ­Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention unter www.suizidprophylaxe.de.

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