chrismon: Was unterscheidet "gedenkenswert" von anderen Trauergruppen?
Rainer Liepold: In Trauergruppen auf sozialen Netzwerken sind Menschen als Moderatoren aktiv, die kaum seelsorgerliche Kenntnisse haben. Auf Posts von Suizidabsichten wird zum Beispiel sehr unreflektiert reagiert. Es treiben sich dort auch kommerzielle Anbieter herum, die heilende Amulette verkaufen wollen. So etwas unterbinden wir auf unserer Plattform sofort. Außerdem motivieren wir Betroffene, sich nicht nur über das Belastende auszutauschen, sondern auch mitzuteilen, was ihnen beim Trauern hilft. Ich kann mich an einen Mann erinnern, der nach dem Tod seiner Frau seinen Freundeskreis wiederbelebt und dort Halt gefunden hat. Zudem moderieren wir die Kommunikation, weil es auch mal Konflikte gibt.
Prof. Dr. Rainer Liepold
Monja Stolz
Was für Konflikte kommen auf?
Ich erinnere mich an eine Tochter aus einer Patchworkfamilie, die ein sehr inniges Verhältnis zu ihrem Stiefvater hatte. Zu seiner Beerdigung wurde sie von ihrer Zweitfamilie nicht eingeladen. Sie hat auf "gedenkenswert" eine sehr liebevolle Seite für ihn eingerichtet. Die Zweitfamilie hat dann aber auf dem Portal alles infrage gestellt, was sie geschrieben hat.
Ist es Ihnen gelungen, den Streit zu schlichten?
Es ist mir gelungen, die Einsicht zu wecken, dass sie sich nichts Gutes tun, wenn sie den Streit digital austragen. Wie es analog weiterging, weiß ich nicht.
Haben Sie über "gedenkenswert" einen besseren Zugang zu den Betroffenen als durch ein konventionelles Seelsorgegespräch?
Vielen Menschen fällt es leichter, ihre Gefühle mitzuteilen, wenn sie sich hinter der Anonymität des Internets verstecken können. Ich merke, dass sie mir Dinge erzählen, die sie der Pfarrerin oder dem Trauerredner wahrscheinlich nicht erzählt haben.
Was erzählen die Menschen?
Kürzlich habe ich mit einem 84-Jährigen gechattet, der eine Erinnerungsseite für seine Schwester eingerichtet hatte. Er war traurig, weil ihre Verwandtschaft aus Kanada nicht zur Beerdigung kommen konnte. Sie seien nicht so religiös wie er, und er würde ihnen gern seine Vorstellung von Glauben mit auf den Weg geben. Ich fand seine Sichtweise auf Glauben und Trost schön, habe aber versucht, ihn zu bremsen, weil es zwar sein Weg ist, damit umzugehen, aber nicht automatisch der richtige für andere Menschen.
Sind solche Plattformen die Zukunft der Trauer?
Wenn wir unsere Freundschaften übers Handy pflegen, wenn wir unsere Partner online kennenlernen, dann ist naheliegend, dass auch Trauer ein Stück weit ins Internet rückt. Durch Corona ist auch für ältere Menschen der Umgang mit digitalen Medien selbstverständlicher geworden. Es gibt 90-Jährige, die auf unserem Portal etwas posten. Gerade während Corona war die Plattform ein echter Segen. Während einer Bestattung, bei der nur fünf Leute live dabei sein durften, zündeten 127 eine virtuelle Kerze an. Dadurch wusste die Witwe, dass die Anteilnahme sehr groß war.
Trifft das Projekt auch auf Kritik?
Hospizvereine sind manchmal zunächst skeptisch – also Menschen, die sich professionell mit Trauer beschäftigen. Sie fürchten, dass das Internet eine nie endende Trauer begünstigt. Dazu habe ich drei Intensivnutzer im Zuge einer Studie befragt. Alle haben berichtet, dass mehrmonatiges intensives Posten ihnen gutgetan hat. Sie konnten ihre Aktivität im eigenen Tempo regulieren. Dafür ist im Internet Raum, es gibt weniger Druck von außen. Wenn ich den Hospizvereinen davon berichte, schwindet die Skepsis meistens.