Bischof Sándor Zán Fábián über Minderheiten in der Ukraine
"Meine Söhne sollen nicht mit Waffen kämpfen"
In den Unterkarpaten, im Westen der Ukraine, lebt eine ungarische Minderheit. Ein Jahr Krieg hat den Konflikt verstärkt. Bischof Sándor Zán Fábián spricht über Sicherheit, Gemeinschaft und Lösungsansätze.
Ein vertriebenes Kind spielt am 3. Juni 2022 in Berehove
Ein vertriebenes Kind spielt am 3. Juni 2022 in Berehove
Diego Ibarra Sanchez/NYT/Redux/laif
24.02.2023
5Min

chrismon: Sie haben vier Kinder. Ihre Zwillingssöhne werden dieses Jahr volljährig. Und damit militärpflichtig. Haben Sie Angst um sie?

Sándor Zán Fábián: Ich habe große Angst und fühle mich sehr unsicher. Wir und unsere Söhne möchten nicht aktiv an diesem Krieg teilnehmen. Als Vater möchte ich nicht, dass unsere Söhne mit Waffen gegen andere Menschen kämpfen müssen. Sie studieren im ersten Semester an einer ungarischen Universität. Sie sollen dort weiterstudieren und ein friedliches Leben haben.

Deshalb verlassen auch viele gerade die Unterkarpaten?

Ja. Mehrere tausend Männer seit Kriegsbeginn. Die meisten Männer und armeepflichtigen Jugendlichen aus unserer ungarischsprachigen Gemeinde sind direkt nach dem 24. Februar 2022 geflohen - viele nach Ungarn, einige nach Deutschland, England oder in die Niederlande.

Privat

Sándor Zán Fábián

Sándor Zán Fábián ist Bischof der Reformierten Kirche in Transkarpatien im Südwesten der Ukraine. Zu seiner Diözese gehören 180 Kirchengemeinden.
Julian Leitenstorfer

Sarah Zapf

Sarah Zapf betreute bis 2024 die Rubrik "Mails aus". Sie studierte Internationale Beziehungen an der Uni Erfurt sowie in Ankara und lebte in den USA, Brüssel, Prag und Maastricht. Im Master Journalismus an der Deutschen Journalistenschule wurde sie in Print, TV und Hörfunk ausgebildet.

Was sind weitere Gründe für die Flucht aus der Region?

Nach dem Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991 verabschiedete das Parlament die Aufstellung der ukrainischen Streitkräfte. Dann sollte die Wehrpflichtigenarmee hin zu einer Berufsarmee umgestaltet werden. Die endgültige Abschaffung der Wehrpflicht hätte eigentlich 2014 erfolgen sollen. Dazu kam es aber nicht. Stattdessen mussten junge Männer weiter Wehrdienst leisten, als die Krim annektiert wurde. Die Bevölkerung war aber all die vorhergehenden Jahre auf Frieden eingestellt. Die älteren Menschen, die vor der ukrainischen Unabhängigkeit in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik in der Armee waren, erinnern sich noch genau an diese Zeit. Deshalb haben diese Menschen jetzt Angst, ohne Waffen, ohne Ausbildung, ohne praktische Erfahrungen plötzlich als Soldaten eingesetzt zu werden. Die Überlebenschance ist nicht groß, und deswegen sind die Menschen geflohen.

Wie haben Sie die ersten Tage des Kriegs erlebt?

Meine Familie ist nach Ungarn geflohen, meine Tochter studiert in Budapest. Ich war dann die ersten zehn Tage alleine. Das Pfarrhaus war leer, die Kinderzimmer ebenfalls. Ich habe viel darüber nachgedacht, was unser Leben wertvoll macht. Ist es die toll eingerichtete Wohnung mit schönen Möbeln und bequemen Sesseln? Nein, das Wichtigste ist die Familie – meine Kinder und meine Frau. Mir ist aufgefallen, dass wir oft nicht wertschätzen, was im Leben wirklich zählt.

"Sehr viele Kinder werden ohne Vater aufwachsen"

Welche praktischen Vorkehrungen haben Sie getroffen, um sich zu schützen?

Wir haben unsere Keller als Bunker eingerichtet, um da im schlimmsten Fall Schutz zu suchen. Ich bin sehr dankbar, dass wir ihn noch nie nutzen mussten. Meine Familie kehrte nach zehn Tagen wieder nach Hause zurück. Als Familie können wir die Last durch den Krieg besser tragen und uns gegenseitig stützen.

Haben sich durch den Krieg Ihre Aufgaben als Bischof verändert?

Ja, von jetzt auf gleich. In den ersten Wochen haben wir uns sehr viel um die Geflüchteten gekümmert, unsere Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten für sie geöffnet und für Übernachtungsmöglichkeiten, Kleidung und Essen gesorgt. Die Grenzübergänge waren sehr voll. Viele konnten nicht weiterreisen, weil sie keine gültigen Pässe hatten.

Leseempfehlung
Eine Frau füttert Tauben in Saltiwka. Kurz nach Kriegsausbruch wurde dieser nördliche Stadtteil von Charkiw von russischen Angriffen stark zerstört, die Front war im Sommer 2022 nur 12 km entferntMustafa Ciftci/AA/picture alliance

Ihre Gemeinde ist eine ungarischsprachige Minderheit in der Ukraine. Hat sich durch den Krieg die Beziehung der Ukrainerinnen und Ukrainer zu Ihrer Gemeinde verändert?

Die Beziehung ist schlechter geworden. Wir werden schon lange als fremdes Volk im Land angesehen, uns wird unterstellt, dass wir gegen die Ukraine sind. Einige Ukrainerinnen und Ukrainer haben mir gesagt, dass sie bisher nur Schlechtes über Ungarn gelesen und gehört haben. Das hat sich durch konkrete Erfahrungen in der Flucht gewandelt, als Menschen aus den umkämpften, gefährlichen Gebieten der Ukraine auch zu uns in die Unterkarpaten geflüchtet sind. Als die Situation in den Großstädten etwas besser geworden ist, sind einige auch zurückgekehrt, etwa nach Kiew, Odessa, Sumy oder Riwne. Andere wurden von ihrem Arbeitgeber gezwungen, wieder zurückzukehren.

Haben Sie denn noch Kontakt mit diesen zurückgekehrten Personen?

Ja. Mit den Menschen, die bei uns Zuflucht gefunden haben, halten wir als Gemeinde Kontakt – zu Weihnachten etwa schickten Menschen aus dem Dorf Weihnachtsgebäck in die Ostukraine. Wir versuchen zudem, gezielt vor Ort zu helfen. Wir haben zwar unterschiedliche Muttersprachen, aber im Glauben haben wir Verbindung. Im Alltag in den Unterkarpaten kommen die Menschen gut miteinander aus. Sie leben mehr als tausend Jahre beieinander. Vielleicht nicht unbedingt miteinander. Die ukrainischen und ungarischen Dörfer haben sich bis heute nicht gemischt - auch deshalb existieren Vorurteile.

"Viele Minderheiten haben kein Mutterland"

Wie geht die Regierung mit der ungarischen Minderheit um?

In den vergangenen Jahren wurden etliche Gesetze erlassen, etwa das Bildungsgesetz, die es uns als ungarische Minderheit nicht leichtmachen und unsere Freiheit einschränken. Offiziell dürfen wir unsere ungarische Muttersprache nur zu Hause und in der Kirche verwenden, nicht in öffentlichen Bereichen. Ab September soll es auch in den Schulen viele Änderungen geben. Wir wissen aber nicht, wie viel davon angesichts des Krieges umgesetzt wird. Diese Gesetze treffen auch alle anderen Minderheiten – Rumänen, Bulgaren, Polen.

Warum erlässt die Regierung solche Gesetze?

Die ukrainische Führung möchte die russischsprachige Bevölkerung abstrafen und trifft alle Minderheiten, auch wenn viele schon jahrhundertelang in der Ukraine zu Hause sind. Theoretisch könnten wir ja nach Ungarn zurückkehren. Viele Minderheiten haben aber kein Mutterland, sie können nicht einfach nach Hause fahren.

"Familienmitglieder und Freunde sollen endlich nach Hause kommen"

Eine Lösung für den Krieg scheint in weiter Ferne. Was muss getan werden?

Ich denke, dass wir Russland nicht mit Waffen besiegen können. Das Land ist eine Atommacht. Es müssen diplomatische Gespräche aufgenommen werden, damit es erst mal zu einem Waffenstillstand kommt. Sehr viele Kinder werden ohne Vater aufwachsen. Sehr viele Mütter werden alleine die Kinder großziehen. Ich sehe keinen wirklichen Sinn darin, wieso unsere Menschen sterben müssen.

Frieden durch Diplomatie - ist das realistisch?

Ich denke schon. Auge um Auge, Zahn um Zahn war nie ein guter Rat. Menschen sind gut darin, etwas zu zerstören. Ich würde mir wünschen, dass wir mit derselben Tatkraft zusammenhalten, um den Erdbebenopfern in Syrien und in der Türkei zu helfen, wie wir mit Waffen und Munition gegen Russland kämpfen. Wieso sprechen wir seit elf Monaten nur über Krieg, nicht aber über Frieden?

Was wünschen Sie sich für die nächsten Wochen und Monate?

Ich wünsche mir Frieden. Dass eine wirkliche Friedenszeit kommt. Und dass unsere Familienmitglieder, Freunde und auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter endlich nach Hause kommen können. Wenn wir Strom haben, versuchen wir, den Kontakt mit den geflüchteten Gemeindemitgliedern zu halten. Aber das persönliche Miteinander fehlt, dass wir zum Beispiel sonntags zusammen mittagessen. Am 26. Februar fahre ich nach Ungarn, um Gemeindemitglieder zu treffen, die aus den Unterkarpaten dorthin geflüchtet sind. Sich persönlich zu treffen, hilft und macht Mut. Das Themenjahr 2023 der Reformierten Kirche der Unterkarpaten ist übrigens "Hoffnung".

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Ein Bischöfliches Zitat: "Als Vater möchte ich nicht, dass unsere Söhne mit Waffen gegen andere Menschen kämpfen müssen. Sie studieren im ersten Semester an einer ungarischen Universität. Sie sollen dort weiterstudieren und ein friedliches Leben haben".

AW: Welcher Vater möchte das nicht? Aber alle Andere dürfen kämpfen für sie, damit sie im Frieden nach einem Sieg der Geschundenen wieder zurückkehren können. Was ist, wenn das alle machen, die dazu noch in der Lage sind und die Schwachen bleiben zurück und sind dem Bösen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert? Das ist dann ein Sieg des Bösen als praktizierten Wert des Glaubens und Wohlergehens! Pure Selbstliebe. Oder: Jeder ist sich selbst der Nächste. So bekommt der Begriff der christlichen Nächstenliebe eine ganz andere Bedeutung, bis ins Gegenteil. Sehe ich mir die Zeit ab ca. 400 mit der Staatskirche und der Symbiose von Macht und Religion an, war es nicht viel anders. Die (angeblichen) Heiligen und die vielen wirklich Wohltätigen, zu denen auch Gates gehört, sind da nur ein Feigenblatt, um dem 1600 jährigen Mißbrauch der Werte (Kyrill!) durch die religiösen Organisationen, die man Kirchen nennt, zu verdecken. Das politische Christentum begibt sich damit in die Nähe des Antichristen. Protest, Protest! Das ist ja bösartig! Wer ist hier bösartig? Doch wohl der, der sich den eigenen Frieden, auch den mit seinen christlichen Werten, mit dem Leben der Schwachen bezahlen lässt. Da wird dem Ertrinkenden der Rettungsring verweigert und dem Bombardierten die Gegenwehr verwehrt. Das bürgerliche Gesetzbuch fordert eine edlere Denke und Tat. Dazu gehört auch die Toleranz der Intoleranz als Begründung für den Machtanspruch des Bösen! Das Böse tolerieren um erhobenen Hauptes getötet zu werden oder zu flüchten. Sich selbst als Opfer anzubieten, ist wie ein Suizid und damit ein Kollateralschaden der eigenen Werte und absichtlichen Wehrlosigkeit. Eine eigenartige Form der Selbstfindung.

Man liefere mir eine andere Deutung. Die Hoheit dafür hat die Wahrheit und das Ergebnis.