chrismon: In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?
Joachim Meyerhoff: Manchmal sitze ich irgendwo, schaue in die Gegend, und plötzlich beginnt etwas zu schweben. Dann fühle ich mich verbunden mit dem Gegenüber oder mit dem, was mich umgibt. Oder nach einer Vorstellung: Man hat es wieder geschafft, der Körper ist vom Adrenalin in so einer Wachheit. Über zweieinhalb Stunden bin ich in "Eurotrash" mit Angela Winkler auf der Bühne. Wenn ich am Ende mit ihr die Treppe hochgehe, reden wir noch kurz und sagen: "Heute war es so schön." Oder: "Heute war es ein bisschen seltsam" – da fühle ich mich sehr lebendig.
Haben Sie eine Vorstellung von Gott?
Mein Großvater war Philosoph und hat lange als Laienpriester gearbeitet, in seinem Arbeitszimmer hing ein großes, mittelalterliches Kreuz mit lauter Wurmstichen. Der strenge, strafende, überwachende Gott, der mich überwacht – das war mein erstes Gottesbild. Dann verunglückte mein mittlerer Bruder bei einem Autounfall, im Gebet konnte ich ihm nahe sein. Eine sehr emotionale Phase, ich hatte oft ein großes Glaubensgefühl. Umso irritierender war es für mich, dass sich das auf der Schauspielschule verflüchtigte. Ich hatte mit dem Katholizismus überhaupt nichts mehr am Hut. Das lag sicher auch am erotisch aufgeladenen Umfeld dieser Schule. Aber mit welcher Radikalität ich alles über Bord geworfen habe, kann ich bis heute nicht verstehen.
Joachim Meyerhoff
Wer oder was hilft in der Krise?
Mich im Theater verausgaben, dreieinhalb Stunden "Hamlet", rennen, tanzen, singen, nach der Vorstellung trinken – ein wildes Leben hat mich oft aus Krisen befreit. Schreiben hilft auch. 2018 hatte ich diesen Schlaganfall, das beschreibe ich in meinem jüngsten Buch. Ich erwehre mich dieser Katastrophe, indem ich mir wieder eine Stimme gebe, mich erhebe und sage: Das ist ernst und schlimm, hat aber auch einen Abgrund ins Komische hinein. Ich war immer jemand, der viel mit sich ausgemacht hat, das hat sich durch den Schlaganfall geändert. Ich hatte eine Post-Stroke-Depression. Da half vor allem Therapie. Ich musste mich auch aus dem eigenen Narrativ befreien, wer ich zu sein habe. Was mich zwischen 40 und 50 definiert hat, war dieser Beruf. Ich habe gespielt wie eine Silvesterrakete, die herumzischt und explodiert. Dazu fehlt mir nicht die Lust, aber ein bisschen die Kraft. Aber dieser Beruf interessiert mich letztlich nur, wenn er ein gewisses Extrem hat. Und da kommt die Frage: Was geht für mich, was nicht?
Muss man den Tod fürchten?
Ich fürchte ihn. In relativ kurzer Zeit starben Bruder, Vater, Großeltern, das hatte mich völlig entwurzelt. Plötzlich war die Familie nicht mehr existent. Ich habe meinen Vater sehr qualvoll sterben gesehen. Er hatte Krebs mit vielen Schmerzen und Metastasen, über eine lange Zeit. Das muss man fürchten. Das Schreiben war mein Trauerprojekt, auch geboren aus der Ratlosigkeit, keinen Ort für die Toten zu finden. Dabei habe ich gemerkt: Solange ich ihre Geschichte erzähle, sind sie da. Ich muss nur die Augen schließen und mir das Haus meiner Großeltern vorstellen, dann sitzen sie da und sind ganz und gar lebendig. Das kann Literatur besser als ein Fotoalbum.
Welche Liebe macht Sie glücklich?
Die Liebe zu meiner Frau, meinen drei Kindern, meinem Beruf. Eine Tochter ist jetzt schon 22. Wie schnell das ging! Und obwohl ich mich mit meinen vielen Schwächen zeige, obwohl ich oft zu wenig da war, ist doch vieles gutgegangen. Das macht mich glücklich. Auf dem Grabstein meines Bruders steht "Die Liebe höret nimmer auf". Der Vers aus 1. Korinther hat in unserer Familie eine große Rolle gespielt. Wenn ich jetzt meine 85-jährige Mutter oder meinen ältesten Bruder anrufe, ist das geprägt von einer großen Liebe zueinander, das hat uns über vieles hinweggeholfen.
Wo ist Heimat?
Meine Mutter hat an der Ostsee ein Stück Land, drei Hektar. Dort habe ich, als meine erste Tochter auf die Welt kam, viele Bäume gepflanzt, auch einen Kreis aus neun Platanen. Ich hatte immer den Traum, zu erleben, wie sich dieser Kreis schließt. Vor drei Jahren haben die ersten Äste angefangen, sich zu berühren. Wenn ich dort in der Mitte stehe, ich sehe meine Kinder, meine Frau im Liegestuhl, und meine Mutter kommt mit Apfelkuchen aus der Bauernkate, dann bin ich im Epizentrum meines Heimatgefühls.