Kleines Kind im Schnee
Kleines Kind im Schnee
Sarah Zapf
Kolumne Ostwärts
Zwei Bretter und viel Mut
Die einen hassen den Winter, andere lieben die Jahreszeit - und das Skifahren. Die kleine Stadt Oberwiesenthal an der sächsisch-tschechischen Grenze war einst der DDR-Wintersportort schlechthin. Auch nach der Wende locken die Pisten, die auch Sarah Zapf auf zwei Brettern als Kind kennenlernte.
Julian Leitenstorfer
05.01.2023

Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, schickte meine Mutter uns in den Schnee. Allerdings ohne Holzschlitten, Schlittschuhe oder eine Schneeschippe. Stattdessen standen wir in großen Stiefeln auf zwei dünnen, bunten Brettern, ich mit einer gewissen kindlichen Skepsis anfangs eher zögerlich.

Skifahren. Im Erzgebirge, meiner Heimatregion an der sächsisch-tschechischen Grenze, ist es ein ungeschriebenes Gesetz, es doch zumindest einmal im Leben probiert zu haben und die kalte Pistenluft zu schnuppern. Das Erzgebirge schaut zurück auf eine lange Tradition in diesem Wintersport, vor allem in dem höher gelegenen Ort Oberwiesenthal am Fichtelberg. Oberwiesenthal war zu DDR-Zeiten so etwas wie das heutige St. Moritz, nur eben etwas sächsischer.

Der Fichtelberg war damals der höchste Berg im DDR-Gebiet. Mit dem Ort ist ein historisches Ereignis eng verwoben, das so einiges in den darauffolgenden Jahrzehnten nach sich zog. 1906 wurde der Skiclub Unter- und Oberwiesenthal gegründet, nur fünf Jahre später war Oberwiesenthal Austragungsort der ersten Deutschen Skimeisterschaften. 1924 folgte der Bau der ersten Schwebebahn Deutschlands, die auch immer noch im Betrieb ist - wenn auch in weitaus modernisierter Form. 

Einst der traditionsreichste Wintersport- und Kurort in der DDR

Die 1938 erbaute große Skisprungschanze ebnete den Weg für einige Größen im Skisprung. Etwa Jens Weißflog, der als einer der fünf Athleten die wichtigsten vier Wettbewerbe im Skisprung-Sport gewonnen hat und auch heute noch vielen sportinteressierten Menschen ein Begriff sein dürfte. Auch Alpinstar Eberhard Riedel hat 1967 als Gewinner des Riesenslaloms, dem traditionsreichen Ski-Wettkampf-Klassiker, Geschichte geschrieben.

In der neu gegründeten DDR fungierte der Ort als Kaderschmiede für Hochleistungssportler - mit Bettenbunkern für Normalsterbliche und zu jener Zeit schicken Hotels für die DDR-Politprominenz, die aus Berlin und anderswo angereist kam. Der vergangene sowjetische Charme der Unterkünfte war auch lange nach der Wende noch spürbar, teils stehen heute noch vereinzelt Gebäude, die in ihrem Dasein von vergangenen Zeiten erzählen. Nach der Wende wurde es schlagartig ruhiger, viele wollten in die alpinen Skigebiete, die doch so viel mehr boten: besser ausgebaute Skigebiete, längere Pisten, mehr Reiz.

Heute rappelt sich der Ort wieder auf und sucht nach neuen Wegen, auch noch zukünftig Touristen in die Region für den Wintersport zu ziehen. Durch die zunehmende Zusammenarbeit in der Grenzregion nach der Wende wurde auch der nur rund vier Kilometer entfernte Keilberg, der heutige Klínovec, als Skigebiet auf tschechischer Seite in der Karlsbader Region erschlossen. Von der einstigen DDR-Kaderschmiede zeugt heute noch die Elitesportschule in Oberwiesenthal, die nach wie vor die leistungssportliche und schulische Ausbildung junger Talente ermöglicht.

Mein Bruder (r.) und ich (l.) glücklich nach einem erfüllten Skitag

Trotzdem ist auch hier die Fähigkeit Ski zu fahren nicht im Schlaf gegeben oder gar auf wundersame Weise angeboren. So besuchte ich einen mehrtägigen Kinder-Skikurs am Fichtelberg im besagten Ort Oberwiesenthal. Mit fünf Jahren war ich da gar keine besondere Ausnahme. Mit dabei war mein kleiner Bruder, der eineinhalb Jahre jünger ist und damit als Knirps noch zeitiger startete.

Freiheit und kindliches Abenteuer

Vermutlich fragte uns meine Mutter damals, ob wir Skifahren gerne ausprobieren möchten. Wahrscheinlicher ist es aber, dass sie uns aus Lust und Laune einfach angemeldet hat, ohne lange zu überlegen. Vielleicht auch deshalb, weil sie selbst zu dem Zeitpunkt nicht wirklich Ski fahren konnte. Als Kind stand sie, wie ihre Geschwister auch, zwar ab und an sporadisch auf den Brettern, aber wirklich von der Pike auf gelernt hatte sie nicht. In ihrer Kindheit in der DDR schnallte sie sich einfach zwei skiähnliche Bretter an, mit denen sich angesichts der Sicherheitsstandards heute wohl niemand mehr den großen Pistenhang hinunter trauen würde. Damals ging es direkt hinter das Haus im Dorf auf die schneebedeckten Wiesenhänge, so ganz ohne einen bequemen Schlepplift oder die schicke Seilbahn.

In das Skigebiet zu fahren war auch damals schon von den finanziellen Mitteln abhängig, die man als siebenköpfige Pfarrersfamilie, in der meine Mutter aufwuchs, nur im sehr begrenzten Umfang in dem sozialistischen Staat zur Verfügung hatte. Mein Opa mütterlicherseits hat immer noch zwei sehr alte, leicht angestaubte Ski aus Komplettholz auf dem Dachboden an der Wand hängen, mit dünnen, zerbrechlich wirkenden Skistöcken. Die stammen aber noch aus weitaus länger zurückliegender Zeit.

In der DDR fuhren viele mit schmalen Holz-Ski der Marke Germina

Dabei war vor der Wiedervereinigung besonders eine Marke bei den Skifahrern der DDR in aller Munde: Germina, die zu Spitzenzeiten jährlich 500.000 Paar Ski produzierten. Auch Jens Weißflog benutzte, wie sollte es anders sein, Germina im Spezialspringen. Um 1970 startete die Firma zunächst mit Langlaufskier. Bereits in den 60er Jahren widmete sich Germina der Herstellung von Sportartikeln und Sportschuhen. Später kamen Hallengeräte, etwa im in der DDR stark forcierten Turnbereich, hinzu. Wie so viele Betriebe zu der Zeit wurde Germina in ein neu gegründetes VEB Kombinat eingebunden, das in den 80er Jahren rund 8000 Beschäftigte umfasste. Heute existiert es immer noch als kleines mittelständisches Unternehmen mit Sitz im thüringischen Ort Schmalkalden - und versucht durch Innovation und Qualität an alte Zeiten im zunehmenden Wettbewerb im Volks- und Profisport anzuknüpfen.

Meine Mutter jedenfalls fühlte sich nach der Wende angespornt, Skifahren doch endlich wirklich zu lernen - immerhin mit wesentlich professionelleren Ski und im modernen Skianzug, den man nach der Wende kaufen konnte. Deshalb startete sie mit fast 40 Jahren auch das Wagnis eines Skikurses – fast zeitgleich als wir als Kinder das Skifahren gelernt hatten. Mein Vater hingegen war nie sonderlich von der Idee begeistert, sich mit zwei Brettern unter den Füßen einen Hang hinunterzustürzen. Er hielt sich dann eher an kleine Langlauftouren auf einer der zahlreichen Loipen durch die Waldgebiete, ganz ohne steile Abfahrten.

In eines meiner Fotoalben schaue ich immer noch von Zeit zu Zeit auf die verschiedenen Schnappschüsse aus der Kindheit, die uns meine Mutter über all die Jahre hineingeklebt und beschriftet hat. Auf einer Seite mittig im Album findet sich alles zum Skikurs. Auf den Fotos sehe ich tatsächlich glücklich und irgendwie gelöst aus - wie ich so auf der Piste mit einem großen roten Helm stehe und mit beiden Händen meine Ski umklammere, die mir fast bis kurz unter mein Kinn reichen.

Auf lange Skitage im Kalten folgte heißer Kakao

Neben mir mein Bruder, der mit einem breiten Grinsen bis über alle Ohren strahlt und mit Ski, die noch überdimensionierter für seine damalige kleine Statur wirken. Von der Skepsis keine Spur auf dem Foto, die ich anfänglich am ersten Tag verspürt habe. Damit die Erfahrung des Skikurses noch länger im Gedächtnis bleiben, hat meine Mutter passend dazu einige Schneeflocken neben die Beweisfotos gemalt. Wenn schon Fotos vom Skifahren, dann doch auch eine kleine Schneelandschaft im Album.

Mehr als 20 Jahre später wage ich mich immer noch auf die Piste. Nicht mehr unbedingt im Erzgebirge, sondern aufgrund der Nähe Münchens zu den Alpen in Südbayern oder Österreich. Dann traue ich mich auch mal auf eine schwarze Piste und erinnere mich an den altbewährten Schneepflug, wenn es besonders steil oder sogar vereist ist. Wie gut, dass meine Mutter uns Kinder in den Skikurs gesteckt hat. Die Liebe zur Piste bleibt. Und zu dem heißen Kakao an kalten Wintertagen. Das nächste Mal vielleicht beides in Oberwiesenthal am Fuß des Fichtelbergs.

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Kolumne

Sarah Zapf

Sarah Zapf kommt aus Annaberg-Buchholz in Sachsen. Der untergegangene Staat prägte Sarahs Kindheit, ihr Familienleben, ihre Jugend. Davon, und von ihrem aus Tschechien stammenden Großvater erzählte sie von Dezember 2022 bis Dezember 2023.