Quo vadis, russische Orthodoxie?
LVIV, UKRAINE - APRIL 18: A view of the Saints Peter and Paul Church in Lviv, Ukraine, on April 18, 2022. It has the status of a military church, as Greek-Catholic military chaplains serve there, and it's closely connected to the Ukrainian armed forces. This week the Orthodox Easter will be celebrated in Ukraine until Sunday the 24th. After the attacks on Lviv this morning, people have flocked to the city's churches to pray and honor the deceased soldiers. The religious works of the interior are protected and covered by fears of possible destructive bombardments. The crucifix was so valuable that the Soviet authorities tried to take it to St. Petersburg's Hermitage. However, thanks to caring people, the shrine was left in the Lviv church. (Photo by Gian Marco Benedetto/Anadolu Agency via Getty Images)
Gian Marco Benedetto/Anadolu Agency/Getty Images
Quo vadis, russische Orthodoxie?
Der Patriarch in Moskau verfällt Putins Ideologie - und bringt so die Mehrzahl der orthodoxen Ukrainer gegen sich auf.
Daniela Olivares/BR
27.04.2022

Vor ein paar Tagen traf ich eine frühere Studentin aus Lwiw, Lemberg. Ich fragte sie, ob sie Kontakt zu ihren Eltern in Russland habe und was sie ihnen erzähle. Ihr kamen Tränen in die Augen. Sie sagte, es sei sehr schwierig, mit ihren Eltern zu reden. Sie wollten nicht glauben, dass ihre Tochter vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland fliehen musste. So sehr seien sie von der russischen Sichtweise abhängig. Mittlerweile spricht sie mit ihren Eltern einfach gar nicht mehr darüber. Sie fürchtet den Abbruch der Beziehung.

Daniela Olivares/BR

Andriy Mykhaleyko

Andriy Mykhaleyko, Jahrgang 1976, studierte Theologie in Lemberg (Lwiw) und Eichstätt-Ingolstadt. Seit 2007 ist er Priester der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Er wurde in Eichstätt promoviert und habilitierte sich auch dort. Bis 2012 lehrte er an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lemberg, seit 2013 an der Katholischen Universität Eichstätt/Ingolstadt. Sein Schwerpunkt ist die Kirchengeschichte in Ost- und Mitteleuropa.

Die Mutter dieser früheren Studentin ist Ukrainerin, der Vater ein Russe. Die Eltern leben bis heute in Russland, wo auch sie aufwuchs. Zum Studium ging sie in die Ukraine, dort lebte ihre Großmutter. Sie blieb im Land, heiratete einen Ukrainer und bekam mit ihm zwei Kinder. Einige Wochen zögerte sie nach dem 24. Februar 2022, dem Tag, als der Krieg ausbrach. Dann floh sie allein mit den Kindern nach Deutschland. Sie floh vor einem Krieg, den der russische Staat angezettelt hat.

Die junge Frau erzählte mir auch von ihrem russischen Großvater. Er hatte den ganzen Zweiten Weltkrieg mitgemacht, wollte aber nie davon berichten. Zu tief saßen die Traumata. Ihr Großvater starb bereits vor Jahren. Sie will sich nicht ausmalen, wie es wäre, wenn sie ihm jetzt sagen müsste: Sie, seine Enkelin mit russischer Staatsangehörigkeit, muss nun, achtzig Jahre später, mit zwei seiner Urenkel in Deutschland Zuflucht suchen, aus Furcht vor russischen Raketen.

Wie dieser jungen Frau ergeht es vielen Ukrainern und Ukrainerinnen, die in Russland Verwandtschaft haben. So geht es auch den Mitgliedern der 12.000 Gemeinden auf ukrainischem Gebiet, die zur russisch-orthodoxen Kirche gehören. In Russland will man nicht wahrnehmen, was ihnen tatsächlich widerfährt. Nicht einmal die Kirchenoberen wollen das.

Kyrill, Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, während des Ostergottesdiensts in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Hinten Wladimir Putin und der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin

"Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet"

"Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet; und jede Stadt oder jedes Haus, das mit sich selbst uneins ist, wird nicht bestehen." Dieses Jesuswort aus Matthäus 12,25 kommt mir in den Sinn, wenn ich an die jetzige Situation der russisch-orthodoxen Kirche und über ihre Zukunft nachdenke. Mit diesen Worten reagierte Jesus im Matthäusevangelium auf den Vorwurf, er treibe die Dämonen mit Dämonen aus. Jesus sagte damit: Selbst wenn es so wäre, dann wäre das Dämonenreich doch dem Untergang geweiht – wie jedes Reich, das mit sich uneins ist.

Widersprüchlicher kann es nicht zugehen: Kyrill, der Patriarch von Moskau, steht auf der Seite des Aggressors Putin und segnet die russische Armee in ihrem Kampf gegen Menschen, die er "das Böse" nennt, die aber in großer Zahl auch seiner Kirche angehören. Nie zuvor habe ich die Predigten und Stellungnahmen Kyrills so aufmerksam verfolgt, sie mir angehört und gelesen. Wie mir scheint es auch anderen zu gehen. Die mediale Aufmerksamkeit ist groß. Vor allem Kyrills Predigten an den Fastensonntagen zogen große Aufmerksamkeit auf sich. Und sie lösten viel Befremden aus. Es ist pervers, wenn im Namen Jesu Christi Gewalt angewendet wird.

Am 3. April 2022, dem 4. Sonntag der großen Fastenzeit, feierte Patriarch Kyrill in der Hauptkirche der russischen Streitkräfte einen Gottesdienst. In seiner Predigt wandte er sich an die russischen Soldaten, behauptete, Russland sei bedroht, und sagte: Es sei erforderlich, das Heimatland und die "wahre Unabhängigkeit unseres Landes" zu verteidigen. Russinnen und Russen müssten "aufwachen", denn in dieser "besonderen Zeit" entscheide sich wahrscheinlich "das historische Schicksal unseres Volkes". Die "Verteidiger des Vaterlandes" müssten die "historische Bedeutung" des Augenblickes erkennen.

In Butscha liegen die Toten, und Kyrill redet vom Brudervolk

Gerade an dem Wochenende, als Patriarch Kyrill die "Friedfertigkeit" des russischen Volkes beschwor und an die historischen Leiden des russischen Volkes erinnerte, wurden die Gräuel in Butscha und in anderen Kiewer Vororten öffentlich; Gräuel, verübt von russischen Soldaten an der ukrainischen Zivilbevölkerung. Kyrill erwähnte sie mit keinem Wort. Unbeirrt redete er weiter: "Wir streben keinen Krieg oder etwas an, was anderen Schaden zufügen würde. Wir sind aber durch unsere Geschichte so erzogen worden, dass wir unser Vaterland lieben und bereit sind, es so zu verteidigen, wie nur Russen ihr Land verteidigen können."

Fassungslos folgte ich Kyrills Worten. Während der Patriarch vom "Brudervolk" sprach, lagen die Toten auf Butschas Straßen, lagen 36 Kirchen des Moskauer Patriarchats in der Ukraine, seines Patriarchats, in Trümmern, zerstört von Soldaten, die er selbst segnete. Denen er sagte, sie müssten bereit sein, ihr Leben für die Heimat zu opfern.

Ich empfand es als zynisch, den Patriarchen von seiner Sorge "für alle Menschen an den Orten der militärischen Auseinandersetzungen" reden zu hören. Immer wieder drängten sich mir dieselben Fragen auf: Was ist mit dem ukrainischen Teil der russisch-orthodoxen Kirche? Was ist mit Kyrills 12.000 Gemeinden in der Ukraine? Wenn Kyrill als oberster Hirte für die Ukraine verantwortlich ist, wo ist sein Aufschrei für die leidenden Menschen dort, für diejenigen, die er als seine "geistlichen Kinder" ausgibt?

Die Kirche agiert als Dienerin des Staates

Nichts davon. Stattdessen aus seinem Mund der offizielle russische Propagandasprech von der "militärischen Sonderoperation"; die Kirche agiert als Dienerin des Staates. Und während die Kirchenleitung in Moskau die russische Regierung unterstützt und die Soldaten der russischen Armee in ihrem Kampf segnet, segnet ihr ukrainischer Teil die ukrainische Armee. Dieser Teil der Kirche heißt zwar ukrainisch-orthodoxe Kirche, ist aber Bestandteil der russisch-orthodoxen Kirche. Er unterstützt die Integrität des ukrainischen Staates, er betet für die ukrainische Regierung.

Kann eine Kirche, die in sich so gespalten ist, Bestand haben? Ich will keine Prognosen wagen. Niemand weiß, wie sich der Krieg weiterentwickelt und wie lange er dauern wird. Ebenso kann auch niemand sagen, ob die Einheit der russisch-orthodoxen Kirche diesen Krieg überdauern wird.

Aber so viel steht fest: Die kirchliche Situation in der Ukraine müsste Patriarch Kyrill eigentlich große Sorge bereiten. Er muss wissen, dass die von ihm geleitete Kirche für seine pro-putinschen Äußerungen einen hohen Preis zahlen könnte. Doch Kyrill stemmt sich mit seiner Ideologie gegen die Realität. Er sieht in den Menschen seines Brudervolkes keine Ukrainer und Ukrainerinnen. Sie sind für ihn "Menschen und Völker der Heiligen Rus, unsere Brüder und Schwestern". Kräfte von außen würden "die Brüder" gegeneinander aufwiegeln und in Auseinandersetzungen stürzen. Und deshalb hält Kyrill weiter die Einheit seiner Kirche von innen heraus für unverbrüchlich; nur Fremdeinwirkung könne sie bedrohen.

Kyrill imaginiert ein vereintes Volk

So sprach er in seiner Ansprache am 7. April, dem Fest Mariä Verkündigung (nach dem alten julianischen Kalender), von "gefährlichen Prozessen im ukrainischen Land". Der "Druck der Propaganda" und deren "teuflische Einwirkung" führe dazu, dass die Menschen nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden könnten und auf Betreiben des Bösen handelten. Die Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern, die ein und demselben Glauben und einer und derselben Kirche angehören – alles nur Provokationen, von außen angezettelt.

Kyrill richtete seine Gebete auf die "Bewahrung des Friedens im ukrainischen Land" und für die "Bewahrung der Einheit seiner Kirche und der geistigen Einheit der Rus". Mit der "Rus" imaginiert Kyrill einen Raum, der Russen, Ukrainer und Belorussen zu einem Volk vereinige. In Russland wird diese Fantasie schon seit langem propagiert. Bereits 2008 verglich Kyrill bei einer Rede in Kiew die Einheit von Russen, Belarussen und Ukrainern mit der Einheit der Heiligen Dreifaltigkeit. Damals wurde in Russland ein staatlicher Feiertag eingeführt, der an die Taufe des Kiewer Großfürsten Wladimir am 28. Juli 988 erinnert. Das Reich, das Wladimir seinerzeit gründete, gilt als Vorläuferreich Russlands, der Ukraine und Weißrusslands. Mittlerweile wird die Erinnerung an diese Taufe sogar missbraucht, um Putins Aggression gegen die Ukraine zu legitimieren.

Kyrill überhöht das, was er für einen Kampf um die Einheit hält, metaphysisch. Auf die orthodoxe Kirche seien "giftige Pfeile" gerichtet, um ihre Einheit zu zerschlagen und die Kirche zu kompromittieren. Die orthodoxe Kirche sei aber auch jene Kraft, die das Kommen des Antichristen auf die Erde abwehre. Daher bete er, Kyrill, besonders für die Kraft von Leitung, vom Klerus und vom gläubigen Volk in der Ukraine, dass sie ihrer Kirche (sprich: der Einheit mit Moskau) treu bleibe.

"Für Kyrill beten? Geht gar nicht"

Ganz anders sieht die Realität in der Ukraine aus. Man kann sich leicht vorstellen, dass die ukrainisch-orthodoxe Kirche wegen des Krieges einer ungeheuren Spannung ausgesetzt ist und vor einer Zerreißprobe steht. Ihre Treue zu Moskau kostet sie sehr viel. Immer lauter werden die Stimmen in der ukrainischen Gesellschaft, sie solle sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht, zu was sie sich bekennt und was ihre Zukunft in der Ukraine ist. Unter den Bischöfen und im Klerus gibt es sehr unterschiedliche Meinungen dazu.

In orthodoxen Gottesdiensten ist es üblich, den Patriarchen – in diesem Fall Kyrill – zu kommemorieren und für ihn zu beten. Gläubige in der Ukraine empfinden das zunehmend als Zumutung, steht der Patriarch doch klar auf Putins Seite. Etwa ein Fünftel der Bischöfe hat deshalb mit dieser Praxis aus Protest gebrochen. Damit ist das gemeinsame Band zwar noch nicht zerrissen, mindestens aber distanziert man sich so.

Einige wenige ukrainische Priester fordern, die Gemeinschaft mit dem Patriarchat von Moskau ganz abzubrechen. Andere hoffen auf eine Bischofsversammlung, um über die aktuelle Lage zu diskutieren. Mitte April riefen 400 Priester mit ihrer Unterschrift unter einer Petition dazu auf, ein orthodoxes kirchliches Gericht unter der Leitung der Patriarchen der alten Kirchen von Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem und Zypern einzuberufen. Es solle den Fall des russischen Patriarchen behandeln und Kyrill gegebenenfalls verurteilen. Sie erhoffen sich dadurch eine "De-Kyrillisierung" der russischen Orthodoxie.

Karfreitagsgottesdienst in der Peter-und-Paul-Kirche in Lwiw

Und was ist mit den künftigen jungen Priestern?

Es gibt noch andere orthodoxe Kirchen in der Ukraine. Eine ist autokephal, das heißt, sie ist eine eigenständige ukrainische Kirche, unabhängig von der russischen Orthodoxie. Übertritte dorthin gibt es, aber nicht massenhaft. Dennoch: Früher waren es häufig Laien, die einen Übertritt ihrer Gemeinde verlangten. Heute geht die Initiative dazu immer häufiger vom Klerus selbst aus.

Und was ist mit den Hunderten junger Menschen, die sich zurzeit auf das Priesteramt und den pastoralen Dienst in dieser Kirche vorbereiten? Wenn sie mit ihrem Studium fertig sind, in welcher Kirche werden sie ihren Dienst verrichten? Ich habe ukrainisch-orthodoxe Priesteramtskandidaten befragt. Ihre Antworten fielen unterschiedlich aus. Aber es fällt schon auf, wie alle zunehmend kritischer werden. Manche, die ich ansprach, waren von der Position des Patriarchen Kyrill enttäuscht und äußerten sich sehr scharf.

Andere, die den Patriarchen sonst nie öffentlich kritisiert haben, tun dies nun immer entschlossener. Selbst sie empfinden das Gebet für Patriarch Kyrill im Gottesdienst als Zumutung. In den Blickpunkt ihrer Kritik gerät die offensichtliche Abhängigkeit der russischen Kirche vom Staat. Kyrills Hoffnung, es werde trotz des Krieges schon zu keiner massenhaften Abspaltung kommen, empfinden diese Priesteramtskandidaten als naiv. Selbst eine vollständige Abtrennung von Moskau wollen sie nicht ausschließen. Doch ihre Bischöfe seien zu unentschlossen, weshalb die Kluft zwischen kirchlicher Hierarchie einerseits und Klerus und Gläubigen andererseits wachsen werde.

"Es geht nicht um Kyrill, es geht um Christus"

Schließlich gibt es noch die anderen, sehr gemäßigten jungen Studenten. Für sie ist die Gemeinschaft mit Moskau eine reine kirchenrechtliche Angelegenheit. Sie glauben aber, dass die ukrainische-orthodoxe Kirche über Spielräume verfüge und sich nicht nur selber verwalten, sondern auch frei politisch positionieren könne. Auch eine Kirche unter Kyrill könne die ukrainische Armee und geflüchtete Menschen unterstützen. Und im Gebet gehe es letztlich nicht um Patriarch Kyrill, sondern um Christus. Diese Studenten hoffen, dass die Kirche nach dem Krieg sich erneuern und stärker sein werde. Es werde keine Spaltung kommen, glauben sie; die Kirche werde den Menschen näherstehen als zuvor.

Bis zum 23. Februar 2022 war allen in der ukrainisch-orthodoxen Kirche klar: Wir gehören zum Patriarchen von Moskau. Nach den Gesprächen mit den Priesteramtskandidaten ist mein Eindruck, dass diese Einigkeit bröckelt und verfliegt. Ein junger Priesteramtskandidat verglich die Zukunft seiner Kirche mit einem Boot auf stürmischer See. Die Wellen schaukeln das Boot hoch, rütteln an ihm, mit jedem Tag des Krieges immer mehr. Man könne die Geschichte nicht mehr zurückdrehen, sagte er. Kyrill referiere ganz Putins Sichtweise; er werde damit keinerlei Akzeptanz in der ukrainischen Gesellschaft mehr finden und so auch die Einheit mit den Gläubigen gefährden. Der ukrainisch-orthodoxen Kirche stehe eine stürmische Zukunft bevor.

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