Interview mit einem Pfarrer in Odessa
Interview mit einem Pfarrer in Odessa
Ed Jones / Getty Images
"Natürlich feiern wir Ostern, gerade jetzt!"
Am Anfang des Krieges sprach chrismon mit Pfarrer Gross in Odessa. Er wollte nicht fliehen und bei seiner Gemeinde bleiben. Wie ist die Lage jetzt?
Tim Wegner
14.04.2022

chrismon: Wie ist die Situation in Odessa kurz vor Ostern 2022?

Alexander Gross: Im Vergleich zu vielen anderen Regionen im Norden und Osten der Ukraine ist es bei uns viel ruhiger. Von Zeit zu Zeit gibt es Raketenangriffe, aber sie gelten bisher konkreten Zielen wie militärischen Einrichtungen oder Treibstoffdepots. In Odessa ist es noch nicht so katastrophal wie andernorts, wo Häuser oder Schulen zerstört werden. Das Leben kehrt zurück, die Menschen arbeiten wieder, die Bauern bestellen ihre Felder. Die Kinder gehen nicht in die Schule, bekommen aber zu Hause Unterricht über das Internet. Wir haben nun in der zweiten Woche unser Kulturzentrum wieder eröffnet. Kinder aus armen Familien kommen zu uns, sie haben die Aufgaben aus der Schule dabei. Wir helfen ihnen, sie zu lösen.

Sonntagsblatt / Thomas Greif

Alexander Gross

Alexander Gross ist Pfarrer der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine (DELKU) in Odessa.

Alle kennen die fürchterlichen Bilder aus Butscha oder Mariupol. Haben die Menschen Angst?

Ja, die Angst ist da. Mein Kollege und ich haben uns überlegt, ob wir unsere Familien zurückholen sollen, sie sind nach Rumänien geflohen. Aber wir haben entschieden, damit lieber noch zu warten. Wir befürchten, dass die Russen auch in unserer Region wahllos Ziele angreifen. Mit dieser Angst müssen wir leben. Aber es hilft uns allen, dass so etwas wie Alltag zurückkehrt. Ich würde sagen: 90 Prozent der Dinge, die vor dem Krieg geklappt haben, funktionieren hier in Odessa wieder.

Wie denken die Leute über Deutschland, das immer noch sehr viel Geld für russische Energie bezahlt, aber nach Meinung vieler Kritiker zu zögerlich Waffen liefert?

Mich spricht niemand darauf an, aber in den Medien und den sozialen Netzwerken ist das ein Thema. Einige sind wütend, dass der Weg hin zur Realpolitik und weg vom Putinverstehertum für manche Menschen in Deutschland so weit ist. Andere sagen: Deutschland ist eine Demokratie, es gibt nun einmal verschiedene Meinungen zur Ukraine. Ich persönlich finde, dass in einem Monat viel passiert ist in Deutschland. Klar, der Bundespräsiden Frank-Walter Steinmeier war früher sehr prorussisch in seinen Positionen. Aber seinen Besuch abzusagen – das war nicht schlau von der ukrainischen Regierung. Aber das ist alles nicht unser Hauptthema. Wir brauchen Hilfe, das ist wichtig. Und Deutschland hilft viel, das evangelische Gustav-Adolf-Werk zum Beispiel leistet eine unglaubliche Arbeit. Sie waren die Ersten, die gefragt haben, was wir brauchen. Und sie helfen auch den Geflüchteten in Polen oder Rumänien.

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Als wir zu Kriegsbeginn telefoniert haben, war es Ihnen wichtig, die Unterstützung für arme Familien aufrechtzuerhalten. Haben Sie es geschafft?

Das funktioniert sehr gut. Besonders in den ersten Wochen des Krieges hatten es arme Menschen schwer, vor allem auch ältere. Die Renten wurden nicht pünktlich ausgezahlt, viele Geschäfte haben nur Bargeld akzeptiert. Wir konnten eine große Hilfe sein, haben Geld verteilt, damit die Menschen Lebensmittel kaufen konnten. Nun funktionieren die Zahlungen mit der Bankkarte wieder, die Rentner haben auch ihr Geld bekommen. Unsere Sozialküche betreiben wir weiter, wir bringen 500 Essenspakete zu älteren Menschen in umliegenden Dörfern. Damit können wir ganz gezielt helfen.

"Niemand wird eine russische Besatzungsmacht akzeptieren"

Ostern ist das Fest der Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Können Sie mit diesem Gedanken inmitten des Krieges Ostern überhaupt feiern?

Wir glauben an Gott und daran, dass Jesus für uns gestorben ist. Das bringt Hoffnung – egal, in welcher Situation wir uns befinden. Aber ja, wir können sterben, jeden Tag. Das kann passieren. Es ist Krieg. Aber die Hoffnung in Jesus und in den Glauben sind stärker als dieser Krieg. Wir hoffen, dass Gott uns beistehen und uns beschützen wird. Natürlich feiern wir Ostern, gerade jetzt! Am Sonntag halte ich drei Gottesdienste, in drei Gemeinden. Wir werden danach zusammensitzen und feiern. Ich denke, dass in jeder Gemeinde zwanzig Besucher kommen. Da kann man viel reden, das ist wichtig.

Würden die Menschen in Odessa eine russische Besatzungsmacht akzeptieren?

Niemand wird das akzeptieren. Welches Ziel haben die Russen noch? Das ist die Frage, die sich hier alle stellen. Sie können die Ukraine nicht kontrollieren, höchstens einige Gebiete im Osten und Süden, aber auch daran glaube ich nicht. Die russische Armee wird jeden Tag schwächer. Und wenn wir richtige Waffen bekommen, kann sich ihre Situation noch schneller verändern. Ich verfolge russische Kanäle im Internet. Auf einem dieser Kanäle wurde berichtet, man habe für eine Befragung 30.000 Menschen angerufen. Und 95 Prozent wollten sich nicht zum Krieg äußern. Verstehen Sie bitte! 95 Prozent der Russen sagen nicht einmal, dass sie Putin unterstützen – das ist erlaubt, das darf man sagen in Russland. Aber die Leute wollen lieber gar nichts sagen. Ich glaube nicht, dass 80 Prozent der Russen Putin unterstützen, wie es oft heißt. Es müssen viel weniger sein. Man hört auch davon, dass russische Soldaten nicht mehr kämpfen wollen. Putin will die Reserve mobilisieren – aber es klappt nicht. In den nächsten zwei, drei Wochen wird sich zeigen, wie alles ausgeht.

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