herder verlag
Sexualisierte Gewalt, evangelische Kirche und Familie
Wenn man ein Buch fertig gestellt hat und das erste gedruckte Exemplar vor einem liegt, fällt einem leider sofort etwas ein, was darin auch hätte vorkommen müssen. So geht es mir mit einem Buch, das ich gerade herausgegeben habe. Es versucht, theologische Konsequenzen aus der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche zu ziehen. Das war eine schöne und herausfordernde Zusammenarbeit mit sehr unterschiedlichen Kolleginnen und Kollegen. Aber jetzt denke ich, dass mindestens ein Aspekt unbedingt noch hineingehört hätte.
14.04.2022

Eine der bedrängendsten Gegenwartsfragen der evangelischen Kirche – wie der Gesellschaft insgesamt – ist die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt. Inzwischen ist vieles in meiner Kirche geschehen: Krisenmanagement, Aufarbeitung, Gespräche mit betroffenen Menschen, Prävention. Dass noch viel mehr zu tun ist, belegen die nicht endenden Debatten. Eine Voraussetzung einer anderen kirchlichen Praxis ist eine vertiefte Reflexion. Hierzu möchte ich mit meinen Koautorinnen und Koautoren in dem Buch „Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche“ einen Beitrag leisten.

Wir denken darüber nach, was die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und die Begegnung mit betroffenen Menschen für Theologie, pastorale und diakonische Praxis, kirchliche Strukturen sowie persönliche Frömmigkeit bedeuten. Dabei stellen wir uns Fragen wie diese: Wie muss sich unser Verständnis von Schuld und Vergebung, Liebe und Barmherzigkeit, Macht und Ohnmacht, Scham und Gewalt, Vertrauen und Freiheit verändern? Wie muss zukünftig unsere Einstellung zu Nähe und Distanz, zur Sexualität, zum Verhältnis zwischen Männern und Frauen, zwischen den Generationen aussehen?

Die für mich wichtigsten zwei Erkenntnisse in der Arbeit an diesem Buch waren: Erstens geht es bei sexualisierter Gewalt zentral um Macht, um mal subtilen, mal massiven Missbrauch von Macht; zweitens fällt es der evangelischen Kirche, die sich von ihren reformatorischen Ursprüngen her und besonders seit den Emanzipationsbewegungen der 1970er Jahre als machtkritische Institution versteht, besonders schwer, einen klaren Blick für Machtgebrauch und Machtmissbrauch in den eigenen Systemen zu gewinnen.

Ich wusste schon, dass es uns nicht gelingen würde, dieses große und belastende Thema vollständig zu bearbeiten. Aber jetzt wünschte mir, wir hätten zumindest einen besonders wichtigen Aspekt berücksichtigt. Eine Journalistin hat mich darauf gestoßen. Als ich ihr von unserem Projekt erzählte, fragte sie mich, ob nicht die „Familie“ für die evangelische Kirche in etwa das sei, was für die katholische Kirche das „Zölibat“ sei, nämlich eine ideologische und institutionelle Voraussetzung für Machtmissbrauch.

Erst stutze ich, dann leuchtete es mir ein: Sowohl das Ideal der (Pfarr-)Familie wie das des zölibatären Priesters genießen hier bzw. dort höchste Wertschätzung. In der Tat können beide segensreich wirken. Zugleich aber können sie missbraucht werden oder Instrumente des Missbrauchs werden. Es ist doch auffällig, dass viele derer, die in der evangelischen Kirche und Diakonie sexualisierte Gewalt ausgeübt haben, verheiratet waren (oder in festen Beziehungen lebten), dass ihnen diese Lebensform als Schutz und Maske diente. Deshalb wird inzwischen bei der Aufarbeitung auch darüber nachgedacht, inwiefern ihre Familien, vor allem die Ehepartnerinnen Teil des Missbrauchssystems waren – so kompliziert und heikel das auch ist.

Ich finde die Frage der Journalistin so wichtig, weil sie uns in der evangelischen Kirche darauf stößt, die eigenen Abgründe zu bedenken. Und darauf kommt es bei der Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt vor allem an: nicht die Skandalisierung der anderen, sondern die ehrliche Analyse eigener Versuchungen. Und die sind in der evangelischen Kirche andere als in der katholischen – und näher an der bürgerlichen Gesellschaft, als dieser wahrscheinlich lieb ist. Ein Kapitel darüber würde ich jetzt gern anfügen. Doch dafür ist es zu spät. Vielleicht macht es aber auch nichts, denn unser Buch möchte die Debatte über dieses Thema ja nicht abschließen, sondern beleben.

Deshalb weise ich gern auf das ebenfalls druckfrische Buch „‘Wo warst du, Gott?‘ Glaube nach Gewalterfahrungen“ meines Kollegen Andreas Stahl hin, der in unserem gemeinsamen Buch einen sehr aufschlussreichen Beitrag über den Begriff „Aufarbeitung“ verfasst hat.

P.S.: „Friedensethik in Zeiten des Krieges?“ Darüber spreche ich in meinem Podcast „Draußen mit Claussen“ mit dem Koblenzer Militärdekan Roger Mielke.

P.P.S.: In einem brandneuen Format von Chrismon – einem Webinar – unterhalte ich mich am 28. April von 12h bis 12.45h mit der Chefredakteurin Ursula Ott und der Unternehmerin, Autorin und Politikerin Diana Kinnert über Einsamkeit.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur