Charité
Carl Gierstorfer/Docdays/RBB
"Keiner geht da raus und schüttelt das ab"
Am 17. September 2021 ist die Doku-Serie "Charité intensiv - Station 43" mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet worden. Während der zweiten Corona-Welle hat Filmemacher Carl Gierstorfer auf Station 43 gedreht, einer Intensivstation der Berliner Charité. Die Schicksale, die er zeigt, sind uns in der chrismon-Redaktion so nahegegangen, dass wir ihm geschrieben haben. Er antwortete: Der Glaube sei ihm während seiner monatelangen Arbeit immer wieder begegnet. Wie und warum? Das erklärt er im Interview.
Tim Wegner
06.05.2021

Die vier Episoden Ihrer Dokumentation haben jeweils einen Titel, eine Überschrift: Sterben, Kämpfen, Hoffen – und Glauben. Woran konnte man auf dem Höhepunkt der Corona-Krise von Dezember bis Februar auf einer Intensivstation noch glauben? 

Carl Gierstorfer: Die Titel sind en passant entstanden, ich habe sie – wie alles im Film – nicht geplant. Meine Co-Autorin Mareike Müller und ich wussten nur, dass wir vier Teile à 30 Minuten würden produzieren können. Im Dezember habe ich angefangen, allein auf der Station 43 zu drehen. Anfang, Mitte Januar war mir klar, dass der erste Teil "Sterben" heißen würde.

Carl Gierstorfer

Carl Gierstorfer ist Dokumentarfilmer. Er hat in London Biologie studiert. In Liberia hat Gierstorfer eine Dokumentation über Ebola gedreht, auch zu HIV/Aids hat er bereits gearbeitet. Für die Dokumentation "Ebola – Das Virus überleben" (SWR/ARTE) erhielt Carl Gierstorfer den Grimme-Preis 2017.

Warum?

Weil in diesen Wochen - gefühlt - fast alle Covid-Patienten auf der Station gestorben sind. So haben es jedenfalls die Ärztinnen und Pflegekräfte empfunden. Das war eine ganz finstere Zeit. Damit war vorgegeben, dass jede Folge unter einem großen Thema stehen würde. Dass die vierte Folge "Glauben" heißen würde, hatte damit zu tun, dass eine Frau, die ich begleiten durfte, gläubig ist. Sie stammt aus Kamerun, lebt aber lange schon in Deutschland. Auf Station 43 verliert sie ihren Mann, 42 Jahre alt, Vater zweier Kinder. Ich hatte über Wochen mit ihr ein enges Verhältnis aufgebaut. Der Krankheitsverlauf ihres Mannes war lange positiv bewertet worden. Unter den Ärztinnen und Ärzten hieß es immer: "Der wird es schaffen." Seine Frau hat sehr viel gebetet. Sie zelebriert ihren Glauben offen. Sie hat gesungen. Alle haben das mitbekommen. Sie hat nie Zweifel zugelassen, dass er es nicht schaffen würde. Ich habe mich immer gefragt: Was macht sie, wenn es eine andere Wendung nimmt? Als klar war, dass ihr Mann sterben würde, fragte sie, auf Englisch: "Jesus, what is happening?" Warum fällt Gott die Entscheidung, dass ihr geliebter Mann sterben muss?

Hat sie eine Antwort erhalten?

Das weiß ich nicht, aber sie hat die Situation akzeptiert. Und sie hatte die Größe, allen Menschen auf der Station zu danken. Das ist, glaube ich, der stärkste Moment der Serie und deshalb auch der Schluss. Von der Größe dieser Frau spricht die Station heute noch, das hat alle berührt. Diese Frau hat nachts im Zimmer gesungen, am Bett ihres Mannes. Sie stand da, umgeben von Maschinen, die blinken und piepsen, und sang unglaublich schöne Lieder. Ich dachte, das ist doch ein Widerspruch - der Glaube und die Maschinen, die für Vernunft und etwas Rationales stehen! Draußen, auf dem Parkplatz, fragte ich sie: Ist das ein Widerspruch? Sie sagte: "Nein, denn Gott hat uns das Wissen und die Maschinen gegeben, diese Krankheit zu behandeln." Aber die Maschinen haben ihren Mann nicht gerettet. Der Glaube war immer spürbar auf dieser Station, bei ihr war das offenkundig, aber es gab ihn in ganz unterschiedlichen Formen.

Inwiefern ist der Glaube Ihnen noch begegnet?

Da war der Glaube des Personals und der Angehörigen, dass Patienten es schaffen werden! Oder der Glaube der Erkrankten, dass sie da rauskommen würden, wenn sie wieder aus dem Koma geholt worden waren. Ich bin katholisch sozialisiert, selbst aber nicht streng gläubig. Glaube auf der Station 43 ist mir oft ohne eine streng religiöse Konnotation begegnet, als Hoffnung.

"Das Personal hatte keine Zeit, sich von der zweiten Welle zu erholen"

Ist Ihnen auch ein Hadern begegnet, dass es so weit kommen musste mit Corona?

Die politischen Diskussionen haben auf der Station sehr wenig stattgefunden. Die Gespräche waren viel mehr auf das Wesentliche konzentriert, auf die Hilfe. Ich habe aber noch Kontakt zu den Menschen, die auf der Station 43 arbeiten. Im April, Mai ist dort eine große Erschöpfung eingetreten. Das Personal dort erwartet, dass die dritte Welle mit allen Mitteln gebrochen wird, weil keine Zeit war, sich überhaupt nur von der zweiten Welle zu erholen. Sie waren froh, dass die Serie gezeigt hat, wie es auf ihrer Intensivstation aussieht.

In der Serie lernen wir auch Menschen kennen, die es schaffen, die durchkommen, zum Beispiel diesen Patienten, der gerade eine Wohnung gekauft und durch Corona ein Blutgerinnsel in der Lunge hat. Woran hat so ein Mensch geglaubt?

Er konnte, wie alle Patienten, darauf vertrauen, dass sich das Personal mit einer unglaublichen Empathie um ihn bemüht. Auch mit tief sedierten Menschen haben die Pflegerinnen immer gesprochen, ihnen jeden Schritt erklärt, den sie machen. Das konnte ich für mich in dieser Ausnahmesituation gar nicht mehr begreifen. Für den Patienten mit Blutgerinnsel war es absolut entscheidend, so aufgefangen zu werden. Er bekam auch ein Einzelzimmer, damit er nicht sieht, was mit den Zimmernachbarn passiert. Diese Zuneigung und Empathie habe ich nicht erwartet. Ich konnte ja auch immer rausgehen, meine Zeit auf der 43 war auf drei Monate begrenzt. Das kann das Personal aber nicht. Und trotzdem haben sie so viele Geschichten an sich herangelassen.

"Oft höre ich: Andere sind gestorben, ich aber nicht"

Sie sind heute noch in Kontakt mit den Überlebenden von Station 43. Denken diese Leute heute anders über existenzielle Fragen?

Keiner geht da raus und schüttelt das einfach ab. Sie waren erst mal erleichtert, überlebt zu haben - aber später auch tief erschüttert über das, was ihnen widerfahren ist, nämlich: unmittelbar mit dem Tod konfrontiert gewesen zu sein. Einen der Patienten, die durchgekommen sind, hat es richtig weggeblasen, als er erfahren hat, dass sein Zimmernachbar tot ist. Erstaunlich häufig höre ich: Andere sind gestorben, ich aber nicht. Manche haben gesehen, wie ein Leichensack vor ihrer Tür entlanggeschoben wurde. Diese Bilder kriegen sie nicht aus dem Kopf. Fast alle auf Station 43 kommen in ein Zwischenreich von Leben und Tod. Manche schaffen es, manche nicht. Das ist sehr nihilistisch.

Wie meinen Sie das?

Es gibt keine Antwort darauf, warum jemand wieder gesund werden darf. Aber die Ehefrau, die aus Kamerun stammt, die hat eine Antwort. Sie sagt, es war Gottes Wille. Und sie hat mich gebeten, den anderen Überlebenden etwas auszurichten: Dass sie sich freut, dass sie leben können. Ich führe heute mit den Überlebenden Gespräche, die habe ich mit manchen der Menschen noch nie geführt, die ich schon mein ganzes Leben kenne. Ich habe auch geweint während meiner Arbeit. Das war okay. Das Personal hat mir noch Nachrichten geschrieben und gefragt, wie es mir geht! Die passen sehr aufeinander auf, auch auf mich. Ich fand das wahnsinnig schön. 

Die Bilder, die Sie zeigen, sind teilweise sehr stark, drastisch. Haben wir als Journalisten die Aufgabe, die Menschen wachzurütteln, vor Corona zu warnen?

Ich hatte keine Ahnung, was mich auf Station 43 erwartet. Ich war gefragt worden, weil ich Ebola in Liberia miterlebt habe und weil ich allein drehen kann, ohne Kamerateam, was dort auch nicht möglich gewesen wäre. Und dann war ich überrollt von dem, was ich erlebt habe. Wenn es eine Maxime für mich gab, dann die, dass die Leute, die auf der Station arbeiten, mir sagten: "Zeig bitte, wie es ist!" Das war mein Leitspruch. Zwischenzeitlich dachte ich, ich kann dem nicht gerecht werden. Bis ich verstanden habe, dass ich meinem Herzen folgen und darauf vertrauen muss, was mir das Leben auf die 43 schickt. Alles konnte und wollte ich auch nicht zeigen. So ist es einfach ein Ausschnitt aus der Pandemie. Ich weiß, in absoluten Zahlen landen die wenigsten Patienten auf so einer Station. Erst recht, wenn sie noch jung sind. Es sind aber immer noch genügend, dass es unsere Intensivkapazitäten sprengen würde, wenn wir es laufen lassen würden. Und ich weiß, dass jeder seine eigene Hölle erlebt in diesem Jahr - Eltern, erst recht Alleinerziehende, Entscheidungsträger, die Barkeeperin, der Wirt … Wir sind alle erschöpft – aber Menschen wie die von der Station 43 sind es doch ganz besonders.

Infobox

Wie Sie die Serie "Charité intensiv" schauen können

Ganz selten ist Alltag zu sehen in der vierteiligen Dokuserie "Charité intensiv" – etwa, wenn auf dem Fußweg vor dem Krankenhausfenster Passanten vorbeieilen. Der Rest ist Ausnahmezustand. Auf der Covid-19-­Station 43 ringt das Personal um das Leben der Patienten; ein Kampf, der oft verloren geht. Der Dokumentarfilmer Carl Gierstorfer hat sie begleitet, ganz allein. chrismon erzählte er, oft sei ihm der Glaube auf der Intensivstation begegnet. Die Doku ist noch bis 1. April 2022 im Netz zu sehen; wenn Sie dieser Verlinkung folgen und sie anklicken, gelangen Sie zur ARD-Mediathek.

Die für das Fernsehprogramm des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) produzierte Serie hat beim rbb auch eine eigene Homepage, bitte klicken Sie hier

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.