chrismon: Frau Dr. Pelz, wie hat die Pandemie die Situation in Ihrer Klinik verändert?
Dr. Reta Pelz: Wir sind zuständig für die Akutversorgung der rund 130.000 Minderjährigen im Ortenaukreis, Baden-Baden und Rastatt und verzeichnen einen deutlichen Patientenzuwachs. Dabei waren wir schon vor Corona sehr gut ausgelastet.
Reta Pelz
Können Sie die Lage in Zahlen ausdrücken?
Im ambulanten Bereich haben sich insbesondere ab dem Herbst letzten Jahres viel mehr Kinder und Jugendliche notfallmäßig vorgestellt – bis zu 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auf unseren Stationen waren schon vor Beginn der Pandemie immer alle Betten belegt. Mittlerweile haben wir eine chronische Überbelegung von etwa 110 Prozent. Unsere Akutstation ist nahezu durchgängig voll belegt. Wir sehen mehr Fälle von akuter Selbstmordgefährdung und anderen sehr schweren Notfällen. Unserer Wahrnehmung nach sind die Krisen intensiver, die Patienten benötigen mehr Zeit für eine Stabilisierung. Die Wartezeiten für Jugendliche, die nicht akut lebensbedrohlich erkrankt sind, haben sich auf sechs Monate verlängert. Junge Menschen, die dringend Hilfe brauchen, müssen also sehr lange auf eine stationäre Behandlung warten. Das ist schwer auszuhalten und eigentlich nicht tragbar meiner Meinung nach. Im Grunde bräuchten wir eine zusätzliche Station, um der Situation gerecht zu werden. Ähnliches höre ich auch aus anderen Kliniken.
Sie fordern in einem offenen Brief, die seelischen und sozialen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen müssten im Umgang mit der Pandemie stärker berücksichtigt werden. Warum gerade jetzt?
Beim ersten Lockdown im Frühjahr 2020 war noch nicht absehbar, was da alles auf uns zukommt. Kinder und Jugendliche haben eine hohe Resilienz, sie sind anpassungsfähig, also sind wir davon ausgegangen: Das hier ist eine Ausnahmesituation, die die meisten gut bewältigen werden. In unserer Ambulanz war es sogar etwas ruhiger. Nach Ende des Lockdowns allerdings kamen sprunghaft mehr Patienten zu uns, zum Beispiel Jugendliche, weil sie eine Essstörung oder Depression entwickelt hatten, und Kinder mit psychosomatischen Beschwerden, Ängsten, Schulverweigerung.
Inzwischen dauert die Pandemie schon ein Jahr, seit fast drei Monaten sind wir im zweiten Lockdown.
Und es wird immer klarer, dass die langen Kontaktbeschränkungen und die Perspektivlosigkeit gravierende Auswirkungen haben auf die seelische Gesundheit vieler Kinder und Jugendlicher. Diesen Kindern und Jugendlichen wollen wir eine Stimme geben.
"Ein Teil der Kinder bleibt auf der Strecke"
Viele kommen aber auch gut klar mit den Herausforderungen dieser Krise.
Natürlich, viele Kinder und Jugendliche meistern diese Zeit sehr gut, manche wachsen sogar daran. Aber ein Teil bleibt auf der Strecke. Besonders gefährdet sind diejenigen, die selbst psychisch vorbelastet sind, ein psychisch krankes Elternteil haben oder in einem insgesamt schwierigen psychosozialen Umfeld aufwachsen. Es sind aber auch Jugendliche und Kinder aus stabilen Verhältnissen betroffen. Wir erleben Kinder und Jugendliche, die sich aus Loyalität und Verantwortung an alle Pandemieregeln halten und dabei ganz auf eigene, notwendige Bedürfnisse wie Kindsein-Dürfen, soziale Kontakte, Nähe und Berührung verzichten. Das geht schon viel zu lange und kann sich dadurch negativ auf die psychosoziale Entwicklung und die eigene seelische Gesundheit auswirken.
Welche Folgen beobachten Sie?
Viele Kinder fühlen sich verantwortlich für die Gesundheit ihrer Familie und entwickeln Ängste. Wir haben einen Achtjährigen behandelt, der das Haus nicht mehr verlassen hat, weil er fürchtete, er könnte seine Eltern und Großeltern mit Corona anstecken. Andere entwickeln Verhaltensauffälligkeiten oder werden depressiv, wobei sich eine kindliche Depression oft auch anders zeigt als bei jugendlichen oder erwachsenen Patienten, zum Beispiel durch aggressives Verhalten, sie sind reizbar, haben anhaltend schlechte Laune. Es gibt auch Kinder, denen alles egal ist, die auf nichts mehr Lust haben, weniger lachen und sich in sich zurückziehen. Gerade ruhige und angepasste Kinder fallen häufig erst spät auf. Erst recht, wenn Eltern selbst extrem belastet sind. Viele Erwachsene können keine souveränen Eltern für ihre Kinder mehr sein, da sie durch Haushalt, Kinderbetreuung, Homeoffice und teilweise gleichzeitiges Homeschooling enorm gestresst sind. Ein weiteres Problem ist die steigende Mediennutzung der Kinder. Grundschüler sitzen bis zu zehn Stunden am Tag vor dem Bildschirm, bedingt durch Homeschooling und fehlende alternative Freizeitgestaltung. Und selbst wenn Kinder unauffällig sind, darf man nicht vergessen: Ein Jahr im Leben eines Kindes ist sehr viel. Ein sechsjähriges Kind beispielsweise lebt mittlerweile ein Sechstel seines Lebens unter Pandemiebedingungen. Die Kindheit und Jugend ist nicht nachholbar, die Entwicklung steht nicht still.
"Viele Kinder und Jugendliche fühlen sich allein"
Mit welchen Problemen kommen Jugendliche zu Ihnen?
Die häufigsten Diagnosen sind Depressionen und Essstörungen, aber auch Schlafstörungen, Zwangserkrankungen und Suchterkrankungen. Gerade die Jugendlichen können sich nicht altersgerecht entwickeln, sie können sich kaum von den Eltern ablösen oder eigene Wege gehen. Ihnen fehlt die Möglichkeit, eigenen und familiären Stress in der Freizeit auszugleichen durch Sport im Verein, Orchester oder Freunde treffen. Der Konsum an PC-Spielen steigt, die Jugendlichen vereinsamen und werden orientierungslos. Sie rutschen häufig erst in eine Umkehrung des Tag-Nacht-Rhythmus und dann in eine depressive, hoffnungslose Stimmung. Dazu kommt die Sorge um Eltern und Großeltern, der reduzierte Kontakt zu Freunden und eine große Unsicherheit, wie es weitergeht und was die eigene schulische und berufliche Zukunft angeht. Manche fallen dann in ein tiefes Loch. Eine unserer magersüchtigen Patientinnen berichtete: "Ich habe keinen Tagesinhalt mehr." Diese Leere hat sie mit einer Ernährungsumstellung und Sport zu füllen versucht und sich mehr und mehr damit beschäftigt: Wann esse ich was und wie viel? Daraus wurde dann eine Essstörung, die immer auch etwas zu tun hat mit dem Bedürfnis nach Kontrolle.
Ihr offener Brief trägt die Überschrift: "Wir fordern Solidarität für unsere Kinder." Wie müsste diese Solidarität Ihrer Meinung nach aussehen?
Wir brauchen nicht nur Gremien, die sich mit der Autoindustrie befassen, sondern auch solche, die die Situation von Kindern und Jugendlichen im Blick haben. Jugendämter und andere Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe müsste man finanziell und personell stärken. Die ganz große Welle an Problemen wird ja erst kommen, wenn es wieder so was wie eine Normalität gibt, in die sich die Kinder und Jugendlichen einfügen sollen. Dann erst wird auch sichtbar werden, was jetzt unsichtbar ist, nämlich wie viele Kinder derzeit abgehängt werden oder auch emotionale, körperliche und sexuelle Gewalt erleben müssen. Kitas, Schulen, Vereine und andere Gemeinschaftseinrichtungen erfüllen ja neben einem Bildungsauftrag und den sozialen Grundbedürfnissen auch eine Schutzfunktion durch die soziale Kontrolle, die zurzeit fast völlig außer Kraft gesetzt ist. Das ist auch etwas, was mir sehr große Sorgen macht.