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Der Mensch als Zwiebel – diese Allegorie hat in der deutschen Kunstszene kaum jemand derart ausdauernd und nachdenklich bearbeitet wie Jörg Immendorff. Mit beachtlichem Erfolg. Der 2007 verstorbene Maler, der die letzten Jahre seines Lebens wegen einer Nervenkrankheit im Rollstuhl verbrachte, wurde schon zu Lebzeiten als "Historienmaler der Gegenwart" gerühmt. Mit den Mächtigen war er per Du und einem Kanzler Gerhard Schröder, wie dieser sagte, ein "unbequemer Freund". Von Joseph Beuys an der berühmten Düsseldorfer Akademie unterrichtet, klopfte er Staat und Gesellschaft mit Dada-Aktionen und knalligen Bildern auf die Finger, befasste sich intensiv mit der deutschen Geschichte, studierte Karl Marx, hörte Rudi Dutschke. Am Ende seines Lebens, als er schon schwer krank war, machte eine Party mit Drogen und Prostituierten mehr Furore als seine Kunst. All das (und zugegebenermaßen noch viel mehr) sind die Hüllen der Zwiebel Jörg Immendorff, um zum Bild zurückzukommen.
Lukas Meyer-Blankenburg
Den Vergleich von Mensch und Zwiebel hat der Künstler von Peer Gynt, einer Art norwegischer Faust, nur gerissener. In dem Drama "Peer Gynt" von Henrik Ibsen lässt dieser seinen Helden darüber sinnieren, dass der Mensch aus vielen Schalen bestehe, aber keinen Kern habe. Jede Schale oder Hülle stehe für bestimmte Vorstellungen, Ideologien und Identitäten, die das menschliche Wesen als Ganzes ausmachen. Und so ist wohl auch dieses Bild von Jörg Immendorff zu lesen: Denn die halbliegende Frau gebiert keinen Menschen – oder doch einen Menschen, aber einen in Form einer großen Zwiebelknolle, andächtig umstanden von allerlei Geistesgrößen aus dem Leben des Künstlers: links etwa der Dichter himself, Henrik Ibsen mit Backenbart, ganz rechts mit Vollbart wohl der DDR-Maler A.R. Penck, ein von seinem Staat nicht zu zähmender, widerspenstiger Künstler, zu dem Jörg Immendorff eine enge Beziehung pflegte. Unter ihm, der junge Mann mit ausladendem Riechorgan, könnte Rudi Dutschke sein. Und in der gut ausgeleuchteten, heimlichen Bildmitte thront, so muss man fast schon sagen, Professor Joseph Beuys.
Im Hintergrund springt ein Ziebenbock umher
Jörg Immendorffs "Gyntiana – Geburt Zwiebelmann" gehört schon ins Spätwerk des Malers. Nicht mehr ganz so witzig, aber immer noch knallig – und voller Anspielungen. Steht da nicht ein Tulpenstrauß auf dem Tisch? Würde ja zur Zwiebel passen – und zur tendenziell pessimistischen Gegenwartsanalyse des Malers, den beispielsweise befremdete, als mit Kanzlerin Angela Merkel der Baselitz im Kanzleramt durch ein Werk Kokoschkas ersetzt wurde – die Rückkehr des Neo-Biedermeiers, wie Immendorff fand. Die Tulpen lassen sich als Sinnbild für den ersten großen Börsencrash der Menschheit lesen, eine Folge der Tulpenmanie im 17. Jahrhundert, als noch nicht Immobilien und Staatswährungen, sondern Tulpenzwiebeln Spekulationsobjekt Nummer eins waren. So steckt plötzlich etwas von düsterer Vorahnung im schönen Schein der Blumen. Und die wird nur bestärkt durch den im Hintergrund umherspringenden Ziegenbock – Symbol des Teufels bei Renaissance-Malern wie Hans Baldung Grien, auf den Immendorff in seinem Werk immer wieder anspielt.
Im Bauch der Dame - ein Goldgräber
Im offenen Bauch der Dame lässt sich ein Goldgräber bei der Arbeit beobachten, womit sich der Kreis zu Peer Gynt schließt. Der war im übertragenen Sinne auch ein Goldgräber, der mit Hochstapelei und dreisten Lügen zu gewissem Reichtum kam, nur, um am Ende von Drama und Leben verarmt, aber glücklich sich Gott zuzuwenden und doch noch sein Land Gyntiana zu finden. Gemeint ist eine Mischung aus Sehnsuchtsort und geistigem Rückzugsraum, etwas, das jede Menschenzwiebel mit sich herumträgt.
Mit seinem Zwiebel-Bild hat Jörg Immendorff der Kunstwelt also eine Art Jedermanns-Bild hinterlassen. Es funktioniert gut als Spiegel – oder anders gefragt: Welche Menschen haben Sie geprägt?