Wenn der Mann zum Maß aller Dinge wird
Tim Wegner
05.06.2020

Das städtische Schneeräumen ist nun wirklich geschlechtsneutral, das müsse man ja wohl nicht extra überprüfen! So witzelte ein Behördenmitarbeiter in der schwedischen Stadt Karlskoga, als man dort begann, alle kommunalen Tätigkeiten daraufhin anzuschauen, was sie für den weiblichen Teil der Bevölkerung bedeuten.  

Doch die Gemeinde prüfte trotzdem und stellte fest: Schneeräumen ist überhaupt nicht geschlechtsneutral. Denn wie überall wurden auch in Karlskoga immer zuerst die Hauptverkehrsstraßen von Schnee und Eis befreit, ganz zum Schluss erst die Geh- und Fahrradwege. Das benachteiligte vor allem Frauen. Denn die gehen viel häufiger zu Fuß als Männer: Sie bringen die Kinder zur Schule, gehen zum Bus, der sie in die Arbeit bringt, begleiten einen älteren Familienangehörigen zur Ärztin, gehen auf dem Rückweg einkaufen… Viele Gelegenheiten, auf ungeräumten Wegen zu stürzen und sich schwer zu verletzen.

Straßen oder Fußwege zuerst räumen?

Der Stadtrat änderte die Reihenfolge: Zuerst werden nun Fußwege schneefrei geräumt. Denn mit dem Auto durch Schnee zu fahren ist weitaus weniger anstrengend und schwer, als einen Kinderwagen, einen Rollstuhl oder ein Fahrrad durch den Schnee zu manövrieren. Zum Erstaunen aller sparte man damit sogar Geld – dem Gesundheitssystem und den Betrieben: Es gab auf einmal viel weniger verletzte Fußgänger und Fußgängerinnen.

Frauen sind nicht unsichtbar, natürlich nicht, sie machen die Hälfte der Menschheit aus. Aber wenn es zum Beispiel um Krankheitsforschung geht oder um die Proportionierung von Autos, wird der Mann zum Maß aller Dinge. Und dann wird es gefährlich für Frauen.

Das Buch "Unsichtbare Frauen" der britischen Autorin Caroline Criado-Perez erzählt an zahllosen Beispielen, was passiert, wenn die Hälfte der Menschheit einfach vergessen wird. Weil man keine Daten über Frauen erhebt und deshalb falsche Entscheidungen trifft.

Caroline Criado-Perez:  "Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert"
Verlag btb, 2020, 494 Seiten, 15 €

So erreichen viele Hilfsprogramme keine Frauen – weil man nicht bedacht hat, dass Frauen seltener über Transportmittel verfügen und sie deshalb erst gar nicht zum Ort eines Kurses über neue landwirtschaftliche Methoden kommen. Oder eine Organisation züchtet ertragreicheres Getreide, weil die männlichen Landwirte, mit denen man zuvor gesprochen hat, es am wichtigsten finden, den Ernteertrag zu steigern. Aber dann übernehmen die landwirtschaftlichen Betriebe die neuen Sorten doch nicht. Warum nicht? Weil die Frauen einen großen Teil der landwirtschaftlichen Arbeit erledigen – und ihnen, so überarbeitet, wie sie eh schon sind, etwas anderes wichtiger ist als der Ertrag: Nämlich, wie intensiv die Böden für diese Sorten gejätet werden müssen und wie lange diese gekocht werden müssen. Da patzten die neuen Sorten. Hätte man mit den Frauen gesprochen! Hätte man Daten über die Arbeits- und Lebensweise der Bauern und Bäuerinnen geschlechtsbezogen erhoben!

Warum können Frauen nicht sein wie Männer?

Aber Frauen sind auch so was von kompliziert! Solch Klage hört man zum Beispiel aus der medizinischen Forschung. Schon der dauernd wechselnde Hormonspiegel! Oder ihr höherer Körperfettanteil, dessentwegen sie Medikamente langsamer abbauen. Warum können Frauen nicht so sein wie Männer! Tja. Autorin Criado-Perez bezeichnet das als Ausreden. Es sei ein Skandal, dass die medizinische Forschung noch immer viel zu selten weibliche Zellen, Tiere und Menschen in ihre Untersuchungen aufnimmt. "Die Medizin macht sich mitschuldig am Tod von Frauen", schreibt die Autorin. Und hat auch dafür viele Beispiele. (Im Anhang finden sich dann unzählige Internetlinks zum Weiterlesen.)

Mit Frauen hält der Frieden länger

Die Nichtbeteiligung von Frauen hat übrigens auch für Männer schwere Nachteile. So halten Friedensabkommen, bei deren Verhandlung Frauen beteiligt waren, oft deutlich länger. Das liegt nicht unbedingt daran, dass Frauen besser verhandeln, sondern eher daran, worüber sie verhandeln. Welche Themen sie im Friedensabkommen geklärt wissen wollen. Etwa wer alles wann wie viel Zugang zu Ressourcen und Institutionen haben soll, also zu Wasser, dem Transportwesen, zu Krankenhäusern, Schulen und Gerichten. Wenn Menschen teilhaben können, sind sie weniger wütend – und also friedlicher.

Produktinfo

Caroline Criado-Perez:  "Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert"
Verlag btb, 2020, 494 Seiten, 15 €

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" Eine erhellende Lektüre ", schreibt die Journalistin Christine Holch, ich vermute, dass es sich dabei vor allem um Sarkasmus handelt. In diesem Falle kann ich ihr nur zustimmen, denn aus heutiger Sicht kommen die Erkenntnisse der Buchautorin sehr spät bis up to date. Man kann doch schliesslich nicht jede Verspätung tolerieren, finde ich.
Dieses Buch gehört in die Grabelkiste für Schrott und nur zu lesen für jemand, der gerne im Ramsch stöbert und wühlt. Nichts gegen das eine oder andere hübsche Ding, dessen man auf diese Weise habhaft werden kann, aber so manches gehört ganz einfach nicht mehr in die Welt.
Allerdings finde ich Artikel, die so wenig eindeutig in ihrer Aussage sind, vor allem in Zeiten, da s.g.n. Fake News die Runde machen, keineswegs positiv.
Und es hilft der Frauensache überhaupt nicht, im Gegenteil, so von Frau zu Frau, ist es vor allem äußerst UNSOLIDARISCH.
" Weil man keine Daten über Frauen erhebt und deshalb falsche Entscheidungen trifft."
DANN ALSO, LIEBE FRAUEN, RAN AN DIE STATISTIK, DENN DER LETZTE FAULE KOMPROMISS, DIE FRAUENSACHE AN SICH, MUSS NOCH AN DEN MANN GEBRACHT WERDEN !
( DIE FRAU KENNT DAS JA SCHON. )

Zitat aus einer Leserrezension bei Amazon:
" Fundiert, konkret, erschütternd - Must-Read für Eltern, Lehrer, Politiker, Vorgesetzte
Rezension aus Deutschland vom 18. Februar 2020
Die Journalistin Caroline Criado-Perez beschreibt wie sich durch typische Vorurteile, unsere Sprache und unsere Kultur ein Blinder Fleck gebildet hat. Sie nennt ihn Gender-Data-Gap.
Obwohl ohne böse Absicht entstanden, führt er zur Benachteiligung und Gefährdung von Frauen in allen Bereichen des Lebens. Er zeigt sich im Lehrplan, der Politik, der Stadtplanung, der Sicherheit, selbst der Förderung von Freizeitangeboten für Jugendliche."

Ich finde, ein typisches Beispiel dafür, wie gut man heute, mit guter Sprachrhetorik, die Menschen beeinflussen kann, bis sie einem alles glauben, und die beste Werbetrommel darstellen, die man sich nur wünschen kann.
Gut oder Böse ? Richtig oder falsch ? Kommt nicht mehr darauf an, Hauptsache geschickt argumentiert, und mit Überzeugungskraft, so tut die überzeugungswillige Masse den notwendigen Rest.
Es ist das typische SCHWARMVERHALTEN, das die vom Internetwissen beherrschte Masse lenkt.
Schon allein deshalb, liebe Christine Holch, ist eine klare und fundierte Meinung sehr viel wert, vorausgesetzt, man ist an der Wahrheit interessiert.
Und es geht um den Journalismus.
Wie es scheint, hat jede Generation ihre Gespenster, gegen die sie ankämpft.
Und ihre Irrtümer. Wozu von der Vergangenheit lernen, wenn man doch viel besser aus ihr seinen Nutzen ziehen kann !
Das ist nicht nachhaltig, sondern dumm und kurzsichtig.
Gegen Schneemassen an UNSINN kann man sich nur zur Wehr setzen, indem man den Schnee aus dem Wege räumt. Man kann natürlich auch das Tauwetter abwarten, und Schäfchen zählen, also jede Menge pseudointelligenter Untersuchungen anstellen, und die Leute mit Zahlen beeindrucken, was heute wohl ganz besonders beeindruckend sein muss, denn das Internet weiß ja schon einiges, aber eben nicht alles. Der Schnee taut ja bekanntlich von selbst. Die Frage nach dem Zeitvertreib lässt sich, wie man am Fernsehen und dem geschätzten Blättchen Chrismon, dieser Tage leicht erkennen konnte, problemlos bewältigen. Die Menschen lechzen nach Unterhaltung und nehmen offenbar jede dargebotene hilfreiche Hand, wie Ertrinkende, die nach einem Strohhalm greifen, um ihr Leben zu retten.
Was für eine Schwarmmentalität ! Die lenkbare Masse ist weich wie Butter, auch ohne Verpackung.
Die Talfahrt solcher Publikationen und witzigsten Untersuchungen haben aber spätestens bei der Bruchlandung ein Ende, die unweigerlich eintreten wird.
Wann ? Warten wir`s ab.
Ischgl war eine solcher Bruchlandungen, bei welcher den meisten wohl das Lachen im Halse stecken geblieben sein musste.

Fazit : Noch kennt jeder das Marxsche Zitat, wonach der Religion die Massen betörende Wirkung von Opium zugesprochen wird ! So allmählich aber, fürchte ich, wird die betörende Wirkung der Gehirn eigenen Opiate auf den menschlichen Geisteszustand insgesamt, zu einer feinen Gefahr für alle.