Wie viel Politik ­verträgt der Glaube?
Wie viel Politik ­verträgt der Glaube?
Lisa Rienermann
Wie viel Politik ­verträgt der Glaube?
Über alles wird in der Kirche diskutiert, auch über Politisches. Aber sie muss sich nicht zu allem äußern.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
Freerk Heinz
27.02.2020

Vorgelesen: Religion für Einsteiger "Wie viel Politik ­verträgt der Glaube?"

Wenn Kirchenvertreter sich politisch äußern, kann einiges schiefgehen. Manchmal gelingt es auch. Zum Beispiel, als die evangelische und katholische ­Kirche gemeinsam davon abrieten, dass Organe bei Hirntoten entnommen werden dürfen, wenn diese zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen haben. Das sah ein Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor. Die Kirchenvertreter hielten dagegen: Organspenden verdienten "als Akt der Nächstenliebe und Solidarität über den Tod hinaus" Anerkennung. Sie sollten aber "von einer freiwilligen Entscheidung ge­tragen sein". Anders als bei einer palliativen Sterbebegleitung erhielten Ärzte die Körperfunktionen bei ­einer Organentnahme auf jeden Fall aufrecht. "Die Entscheidung für oder gegen ­eine Organspende ist deshalb eine sehr persönliche Entscheidung über das eigene Sterben." Die Freiheit dürfe dabei nicht beschnitten werden.

(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

ist Kultur­beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Die Kirchenvertreter argumen­tieren sachkundig und theologisch. Ob sie viele Abgeordnete vor der Abstimmung beeinflussten? Auf jeden Fall lieferten sie einen Beitrag zu einem respektvoll ausgetragenen Streit.

Gern wird über die Frage ge­stritten, ob die Kirche politisch sein solle oder nicht. Aber es geht gar nicht um das Ob, sondern um das Wer, ­Wie und Wann. Nicht allein Amtsträger – Pastoren, Bischöfinnen, Kommissio­nen, Synoden – vertreten die Kirche, sondern jedes ihrer Mitglieder. Sie ­alle dürfen und sollen sich für christliche Humanität einsetzen, etwa im ­Umgang mit Flüchtlingen: in ihrem Reden und Handeln. Politik ist zu wichtig, um sie Politikern, Lobbyisten und Journalisten zu überlassen.

Kirchliche Vertreter sollten sich überlegen, wofür sie sich engagieren

Kirchliche Stimmen sollten sich dabei einer Sprache bedienen, die Schablonen meidet und Raum schafft für Nachdenklichkeit, Zweifel und gemeinsames Suchen. Man sollte ihnen abspüren, dass sie aus tieferen Quellen schöpfen und auf Verständigung ­zielen. Zuhören ist einer der wichtigsten politischen Akte der Kirche.

Damit sie gehört werden, sollten sich kirchliche Vertreter genau überlegen, zu welchen Gelegenheiten und für welche Themen sie sich engagieren. Es kann ein Zeichen politischer Weisheit sein, häufiger mal zu ­schweigen – und nichts zum Tempolimit auf deutschen Autobahnen zu sagen, um dann deutlich aufzutreten, wenn Kernfragen der Menschenwürde oder der Gerechtigkeit berührt sind.
Vor allem Konservative beklagen, die Kirchen seien politisiert. Anstelle des Glaubens würden Pastoren und ­Bischöfe links-grüne Positionen vertreten.

Kirchliche Kernaufgaben: den christlichen Glauben verkünden . . .

Verunsicherte Kirchenleute mögen tatsächlich zuweilen versucht sein, die Menschen mit Politik anzusprechen, die sie nicht mehr mit religiösen ­Themen zu erreichen glauben. Manchen AfD-Politikern wäre es am liebs­ten, Religion wäre nur Privatsache. In der Tradition der Anti-Kirchen-Politik der SED möchten sie die Kirche als Institution, die für christliche Humanität eintritt, zum Schweigen bringen.

Kirchliche Kernaufgaben sind jedoch immer noch: den christlichen Glauben verkünden und ins Heute übersetzen, existenzielle Fragen bedenken, Seelsorge treiben, Gottesdienste feiern. Das nenne unpolitisch, wer mag. Zugleich lebt die Kirche für ihr Gemeinwesen, die "Polis". Sie ist politisch, weil sie an demokratischen Prozessen teilnimmt. Sie trägt im gesellschaftlichen Raum zwischen dem Privaten und dem Staat dazu bei, dass eine religiös-ethische Urteilsbildung und ein fruchtbares Bürgerengagement entstehen können. Man kann ja theologisch begründete Argumente für und wider Windräder finden. Da sollte die Kirche ein Ort sein, an dem Streit respektvoll ausgefochten wird.

. . . und das unendliche Gespräch von Christen mit ihrer Welt

Die evangelische Kirche ist auch in sich selbst ein Gemeinwesen, eine "Polis", umfasst sie doch sehr unterschiedliche Menschengruppen, die sich miteinander erst verständigen müssen. Da sie kein oberstes Lehramt kennt, das religiöse, ethische oder politische Fragen mit unfehlbarer Autori­tät beantwortet, muss in ihr über alles offen, kontrovers und konstruktiv diskutiert werden. Insofern ist die evangelische Kirche nichts anderes als das unendliche Gespräch von Christen miteinander und mit ihrer Welt – manchmal auch über politische Probleme.

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Wieviel Glaube verträgt die Politik?
Alle her zu uns die ihr mühselig und beladen seid, denn unsere Politik und Gesellschaft muss die Konsequenzen unserer christlichen Werte vertragen können. So war das nicht gemeint? Ja, wie denn? In 30 Jahren ca. 9,5, in 2100 sollen es 11 Milliarden sein! Kann mit dieser Menge unser Wertegerüst (mehr könnte nicht übrig bleiben) noch anwendbar sein? Werden unter diesen, bisher nicht vorstellbaren Bedinungen, die Menschenrechte und christlichen Werte noch Bestand haben?
Das ist in 80 Jahren! Also kurzfristig, gerechnet an einem Menschenalter!