Mesale Tolu im August nach ihrer Rückkehr nach Deutschland
epd-bild/Verena Müller
Der Prozess gegen die deutsche Staatsbürgerin Mesale Tolu in der Türkei wird am 16. Oktober fortgesetzt. Die 1984 in Ulm geborene Tochter kurdischer Eltern wurde am 30. April 2017 bei einer Razzia in ihrer Wohnung in Istanbul festgenommen und saß in Untersuchungshaft. Zuletzt hatte Tolu für die linke Nachrichtenagentur Etkin News Agency (Etha) gearbeitet. Die Türkei wirft der Journalistin Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor. Am 26. August durfte sie nach siebenmonatiger Haft und anschließender Ausreisesperre die Türkei verlassen und ist seitdem wieder in ihrer deutschen Heimat.
12.10.2018


epd: Frau Tolu, ein paar Wochen sind seit ihrer Ausreise aus der Türkei vergangen. Wie haben Sie sich wieder eingelebt in Deutschland?


Tolu: Ich bin wieder zu Hause und mir geht es sehr gut. Es ist für mich noch schöner geworden in Ulm. Leute sprechen mich auf der Straße an und ich spüre, dass die ganze Stadt für mich mitgefiebert hat in den letzten Jahren. In den letzten Wochen hatte ich sehr viele Anfragen und Interviews, das war gut, um alles zu verarbeiten. Beschäftigt zu sein, hilft mir mehr als mich zurückzuziehen. Dann bin ich ja auch noch Vollzeit-Mama. Aber langsam kehrt auch wieder ein bisschen Ruhe ein.


epd: Am 16. Oktober geht Ihr Prozess in Istanbul in die vierte Runde. "Ruhe" und der bevorstehende Gerichtstermin klingt wie ein Widerspruch.


Tolu: Ich weiß einfach, dass bei dem Prozess nächste Woche kein Urteil gefällt wird und dass es bis zu einem Urteil noch ewig dauern wird. Das ist das normale Prozedere: Man bekommt viele Termine und entschieden wird dann erst nach einem Jahr. In der Türkei sind sehr viele Menschen angeklagt, es gibt - und das ist nicht übertrieben - Hunderttausende Verfahren. Die Justiz ist überlastet und kommt nicht hinterher. Und es ist natürlich auch eine Taktik, denn die Leute, die angeklagt sind, wissen jahrelang nicht, was mit ihnen passieren wird. Die Menschen bleiben damit über Jahre eingeschüchtert. Man geht sehr lässig und sehr willkürlich um mit Angeklagten in der Türkei.

Ominöser Zeuge


epd: Welche Hoffnungen verbinden Sie mit dem Prozesstag?


Tolu: Ich werde weiter für meinen Freispruch kämpfen, auch wenn das wahrscheinlich ein naiver Wunsch ist. Ich habe mich bereits zwei Mal zu den Vorwürfen geäußert und versucht, die Anschuldigungen zu widerlegen. Es gibt einen ominösen Zeugen, der trotz Einladungen nie zu den Terminen erscheint. Wenn er kommen würde, würden wir uns auf Fragen vorbereiten. Doch der Zeuge kommt nicht, weil es ihn wahrscheinlich nicht gibt, deswegen gibt es gerade für uns nichts zu tun. Nach wie vor gibt es keine Fakten und Beweismittel gegen mich.


epd: Sie hatten angekündigt, beim Prozess anwesend sein zu wollen. Fahren Sie nun tatsächlich in die Türkei?


Tolu: Es ist immer noch offen, da natürlich viele Leute auf mich einreden. Doch mir ist Unrecht widerfahren und ich möchte mit dieser Zeit abschließen können. Ich möchte, dass die Menschen wissen, dass ich nicht leichtsinnig in die Türkei fahre. Ich bin mir sehr bewusst über die Umstände in der Türkei - ich habe die Willkür ja selbst erfahren. Wenn ich fahre, dann aus einem sehr guten Grund.


epd: Haben Sie keine Angst, wieder festgesetzt zu werden?


Tolu: Meine Anwältinnen sehen da keine Gefahr. Nach wie vor besteht ja die Ausreisesperre für meinen Mann und es wäre natürlich ein starkes Zeichen für das Gericht, wenn ich erscheinen würde, denn ich könnte ja auch einfach wegbleiben. Vielleicht können wir so erreichen, dass mein Mann ausreisen darf. In meinem Fall ist es nicht so einfach, zu sagen, ich fahre da nicht wieder hin. Ich befinde mich in einem Dilemma: Wenn ich jetzt nicht zum Prozess fahre, reise ich nie wieder in die Türkei. Und natürlich würde ich gerne wieder meinen Mann sehen, auch wenn es nur für ein bis zwei Tage ist.

Zukunft in Deutschland


epd: Ihr Ehemann, Suat Corlu, ist mit Ihnen angeklagt. Sie haben sich lange nicht gesehen. Wie steht man diese Trennung als junge Familie durch?


Tolu: Ich vermisse meinen Mann und auch mein Sohn fragt täglich nach seinem Vater. Aber wir haben schon eine viel härtere Zeit durchgemacht. Während meiner Haft haben wir uns gar nicht gesehen oder gesprochen und es gab nur Briefkontakt. Mein Sohn hat seinen Vater nur alle zwei bis drei Monate hinter einer Glasscheibe gesehen. Nachdem all das vorbei ist, ist mein Mann sehr erleichtert, dass wir in Sicherheit in Deutschland sind. Jetzt muss er sich keine Gedanken mehr um uns machen. Gegen seine Ausreisesperre legt er immer wieder Einspruch ein. Wir hoffen, dass er damit irgendwann Erfolg haben wird. Unsere gemeinsame Zukunft sehen wir in Deutschland.


epd: Ein Beweggrund, nach Deutschland auszureisen, war für Sie auch immer die Sorge um ihren kleinen Sohn, der mit Ihnen zeitweise in Haft war.


Tolu: Mein Sohn hat jahrelang Trennungen erlebt - von seinem Vater, von seiner Mutter. Wir waren nie wirklich vereint in den letzten paar Jahren. Es wäre für meinen Sohn sehr wichtig, dass sein Vater hier ist. Mein Sohn ist ja jetzt auch hier im Kindergarten. Dort lernt er wieder Deutsch, das er, während er mit mir im Gefängnis war, so gut wie verlernt hatte. Er findet sich ein in die deutsche Sprache, ich denke, das kommt ganz schnell wieder.


epd: Verbindet Sie heute noch etwas, abgesehen von Ihrem Mann, mit der Türkei?


Tolu: Mich verbindet seit Jahren eine Tatsache mit der Türkei: Das Grab meiner Mutter. Meine Mutter ist vor 26 Jahren bei einem Autounfall in der Türkei ums Leben gekommen und wurde dort auch beerdigt. Bisher sind wir mindestens einmal im Jahr dort hingefahren und haben ihr Grab besucht. Das ist es, was uns immer mit der Türkei verbinden wird: Wenn ich an die Türkei denke, denke ich an meine Mutter.

Solidarität darf nicht enden


epd: Nach wie vor sitzen weitere sieben Deutsche aus wahrscheinlich politischen Gründen in Haft. Was könnte Deutschland für diese Leute tun?


Tolu: Ich verdanke vieles dem öffentlichen Druck - weil jede Woche für mich Menschen auf die Straße gegangen sind und Petitionen gestartet haben. Daraufhin hat die Politik gehandelt. Leider hat dieser Druck nachgelassen. Der Kölner Adil Demirci und Max Zirngast aus Österreich - beide sind kürzlich in der Türkei verhaftet worden. Das sind Beispiele, die mir zeigen, dass sich nichts geändert hat. Diese Leute haben nicht so eine große Unterstützung hinter sich wie ich sie hatte. In meiner Heimatstadt Ulm gab und gibt es einen starken Zusammenhalt, über die Parteigrenzen hinweg. Die Solidarität für mich war groß. Ich war in Köln bei einer Solidaritätsveranstaltung für Demirci und war wirklich enttäuscht, dass niemand von der Stadt da war und niemand von einer Partei. Die Leute in türkischer Haft brauchen Unterstützung, um das durchzustehen. Ich erwarte deshalb von meinen deutschen Kollegen, dass sie weiterhin auch über die deutschen und türkischen Kollegen berichten, die noch in Haft sind.


epd: Seit 2017 sind innerhalb der EU zwei Journalisten wegen ihrer investigativen Arbeit ermordet worden: Daphne Caruana Galizia aus Malta und Ján Kuciak aus der Slowakei. Was bedeutet das für die europäische Pressefreiheit?


Tolu: Das ist sehr erschreckend, denn wir gehen immer davon aus, dass so etwas bei uns in Europa nicht passiert. Aber die Statistiken zeigen, dass so etwas inzwischen regelmäßig passiert. Die Fälle haben zumeist mit Korruption von EU-Geldern zu tun - gäbe es bessere Kontrollen in Europa, hätten sich die Journalisten nicht in Gefahr begeben müssen. Das muss unbedingt aufgeklärt werden. Mir fehlt bei den Reaktionen auf diese Verbrechen leider immer die Solidarität. Warum gehen Kolleginnen und Kollegen nicht auf die Straße und sagen: Stopp, es reicht! Wir wollen in Sicherheit arbeiten! Wir denken immer, das passiert nur in anderen Ländern. Doch wir müssen bereits jetzt aufpassen, unsere Freiheiten nicht zu verlieren.

"Wir haben es einfach übertrieben"


epd: War es ein Fehler, Erdogan nach Deutschland einzuladen?


Tolu: Ich bin für Gespräche mit der Türkei, denn nur wenn man direkt miteinander spricht, kann man auch Kritik üben. Wir dürfen die Leute in der Türkei nicht vergessen, die sich für Demokratie und Meinungsfreiheit einsetzen. Doch wir haben es einfach übertrieben: Alles wurde auf unseren türkischen Gast ausgerichtet. Das war nicht richtig. Man hätte zum Beispiel den Fotografen Ertugrul Yigit, der mit einem weißen T-Shirt mit der Aufschrift "Gazetecilere Özgürlük - Pressefreiheit für Journalisten in der Türkei" bei der Pressekonferenz im Kanzleramt saß, nicht abführen dürfen. Damit hätten wir ein wichtiges Zeichen für die Pressefreiheit setzen können.

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