Gedenkjahre - alle neune. Wer lebt wirklich hinter dem Mond?
Lena Uphoff
15.11.2010

"Hier ist Apollo 8 mit einer Live-Übertragung vom Mond." Als Kommandant Frank Borman am Heiligen Abend 1968 sechzig Meilen über der Mondoberfläche diesen Satz ins Mikrofon krächzte, hatten er und seine beiden Kollegen an Bord des Raumschiffs erstmals den erdnächsten Himmelskörper umrundet. Und weil sie eine Fernsehkamera aus dem Fenster hielten, wussten wir nun, wie es hinter dem Mond aussah. Einige Monate später, am 21. Juli 1969, sprach Neil Armstrong den bedeutungsschweren Satz: "Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer für die Menschheit", und setzte als erster Erdenbürger den Fuß auf Mondgestein.

Wir Jungs am Bodensee, in den späten 50er Jahren geboren, taten, was unsere Altersgenossen weltweit machten: Wir saugten die Informationen über die NASA-Expeditionen auf wie kaum etwas anderes. Im Garten spielten wir Mondlandung und stritten uns, wer Neil Armstrong sein durfte und wer Ed Aldrin sein musste (der zweite Mensch, der den Mond betrat).

In der Schule lasen wir Schillers "Glocke" und Goethes "Zauberlehrling". Man erzählte uns von Jena und Weimar, wo die beiden Heroen ihre besten Jahren verbracht hatten. Erst zwanzig Jahre später, 1989, wurde vielen Jung-Wessis bewusst, dass es diese Städte tatsächlich gab. Die DDR, das war für uns die wahrhaft dunkle Seite des Mondes geblieben. Und den Jungs aus Jena war es mit Konstanz am Bodensee wahrscheinlich ähnlich ergangen. Als Michail Gorbatschow im Oktober 1989 bei den Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag der DDR sagte: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", und Willy Brandt am 10. November nach dem Mauerfall ausrief: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört", liefen unseren alt gewordenen Eltern die Tränen über die Wangen. Für sie hörte ein Skandal zu existieren auf. Für uns Nachgeborene diesseits und jenseits von Stacheldraht und Selbstschussanlagen, ereignete sich keine Wieder-Vereinigung. Für uns war die Einheit Deutschlands tatsächlich etwas ganz Neues, genau wie die Landung auf dem Mond.

Bei der Bundestagswahl im Herbst des eben begonnenen Jahres werden nach der Vereinigung geborene Deutsche erstmals ihre Stimmen abgeben. Für sie - in Leipzig und Schwerin, in Stuttgart oder Göttingen - ist der Zustand der Einheit so "normal", wie es für uns die Spaltung in zwei Staaten war. Sie werden unsere Erzählungen über das Damals mit dem gleichen Respekt oder mit derselben Langeweile registrieren, wie wir Opas Erzählungen über den Ersten und Papas über den Zweiten Weltkrieg hinnahmen. Am 1. September 2009 jährt sich zum 70. Mal der Kriegsbeginn mit Hitlerdeutschlands Überfall auf Polen.

Mein Freund Gerd, Lehrer an einem Gymnasium, hat neulich beklagt, dass nur die wenigsten seiner Schülerinnen und Schüler die Daten der jüngeren Geschichte parat hätten. Kriegsbeginn? Mondlandung? Deutsche Einheit? "Geschenkt! Von Calvins 500., von Darwins und Mendelssohn Bartholdys 200. Geburtstag ganz zu schweigen. Eine geschichtslose Generation wächst da heran."

"Geschenkt, du alter Kulturpessimist"

- "Wirklich geschenkt, du alter Kulturpessimist", habe ich ihm geantwortet. Ich glaube nicht, dass die ewigen Gedenktage uns in Jugendjahren mehr interessiert haben als die heutigen Teenager.

Wir sind andere, sind Ältere geworden. Das Bemessen von Zeitspannen, das Zurückschauen und Vorwärtsstreben ist kein Generationenproblem, sondern eine Altersfrage. Anstatt den Jungen geschichtliches Desinteresse vorzuwerfen, sollten wir ihre Energie, ihre Fähigkeit zum Aufbruch, zum Verändern und Erneuern, ihren Blick nach vorn würdigen. Gerade weil wir als Gesellschaft insgesamt immer älter werden, haben wir die Kraft der weniger werdenden Jungen bitter nötig. Anstatt sich mit der Mondlandung vor 40 oder der Gründung der Bundesrepublik vor 60 Jahren zu beschäftigen, interessiert sie, wann wir auf dem Mars landen, wie wir die Energiefrage auf dem Globus lösen und wie wir diesen Planeten einigermaßen sauber halten können. Alles andere liegt sonst bald wirklich hinter dem Mond.

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