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Manche Menschen teilen Lügen sorgsam in "black lies" und "white lies" ein, in schwarze und weiße Lügen. Schwarze Lügen, das sind demnach die, die so richtig mit finstrer Absicht gesagt werden: um den Partner zu betrügen oder um einen Betrug nicht auffliegen zu lassen, um sich selber aus einer misslichen Lage herauszureden, um einen anderen anzuschwärzen. Wer bewusst nicht die Wahrheit sagt, um selber gut dazustehen oder gar die Verantwortung für eigene Schuld nicht zu übernehmen, der lügt "schwarz". Weiße Lügen wären demnach harmlose Schwindeleien, die einen selbst oder andere vor kleinen Ärgerlichkeiten schützen sollen. Man lässt sich am Telefon verleugnen, weil man mit dem Anrufer gerade nicht sprechen möchte. Bei einer unliebsamen Einladung, der man nicht folgen will, schützt man eine Erkältung vor. Einen Brief, den man vergaß zu beantworten, hat man angeblich nicht bekommen.
Man sollte andere mit der Wahrheit wie mit einem Mantel sanft umhüllen
"Weiße" Lügen sind an der Tagesordnung, weil sie das Leben scheinbar bequemer machen. "Na, wie sehe ich aus?", fragt die Freundin und dreht sich begeistert in ihrem neuen Kleid. Soll man ihr sagen, dass der teure Designerfetzen sie wie die Wurst in der Pelle erscheinen lässt und sie erst einmal abnehmen sollte, bevor sie sich in den neuesten New Yorker Schick zwängt? Einer erkundigt sich bei einem Anruf ängstlich, ob er stört. Wird man mit einem ehrlichen Ja antworten, wenn man spürt, dass der andere in größten Nöten schwebt (selbst wenn man gerade dringend eine Pause nötig hätte)? Und will man unbedingt von Kollegen hören, dass man in einer miserablen Verfassung ist, obwohl man längst weiß, wie schlecht es einem geht? Viel einfacher ist es doch, die Freundin fraglos zu bewundern, den Anrufer mit einem stillen Seufzer anzuhören und selber verschont zu bleiben von kritischen Anmerkungen zu Aussehen oder Arbeitsfähigkeit.
Kleine, weiße Lügen machen das Leben scheinbar bequemer und gefahrloser. "Wer zu viel Wahrheit sagt, der ist des Henkers sicher", schreibt George Bernard Shaw in der "Heiligen Johanna". Niemand macht sich beliebt, wenn er oder sie anderen immer unbeirrt oder fanatisch die Wahrheit ins Gesicht sagt. Überdies geht es manchem Wahrheitsliebenden gar nicht immer um Wahrheit oder Lüge, sondern um simple Rechthaberei, um den Drang, sich mit eigenem Ahnen und Wissen so richtig in Szene zu setzen. Und manchmal hat jemand, der der Lüge rigide abschwört, Lust an der Grausamkeit und weidet sich gerne an Schrecken und Scham derer, die er mit der Wahrheit oder was er dafür hält konfrontiert. Max Frisch hat dagegen für mich unvergesslich festgehalten, man dürfe dem anderen die Wahrheit nicht wie einen nassen Waschlappen ins Gesicht schlagen, sondern solle ihn mit der Wahrheit wie mit einem Mantel sanft umhüllen.
"Wer zu viel Wahrheit sagt, der ist des Henkers sicher"
Manchmal wird es klug sein, nicht sofort alles, was man denkt und fühlt, mit voller Breitseite und in totaler Offenheit abzufeuern. Ist man beispielsweise gereizt wie ein wilder Stier, weil andere alles daran setzen, einen zu ärgern, muss man das weder ihnen selbst noch interessierten Beobachtern gleich kundtun nicht einmal dann, wenn sie fragen, wie man das Ganze findet. Eine diplomatische Formulierung, die einem selbst erst einmal die nötige Distanz zum Beruhigen und Nachdenken ermöglicht, ist hier eher angebracht. Das dient dem eigenen Wohlbefinden, und es wehrt mögliche Schadenfreude oder neue Eskalation des Konflikts ab. Auch einen unsicheren Menschen, der ängstlich Beifall heischend fragt, ob er seine Sache diesmal endlich gut gemacht hat, muss man nicht gleich vor den Kopf stoßen. Ein ermutigender Anstoß, in die richtige Richtung weiterzugehen, taugt weitaus mehr als ein grobes Nein.
Man soll einen anderen mit der Wahrheit sanft umhüllen. Aber eben doch mit der Wahrheit. Die Unterscheidung zwischen schwarzen und weißen Lügen, die Überlegung, dass gelegentliches Schwindeln eher nützt und jedenfalls nicht weiter schadet, hilft nicht weiter. Das hat zunächst einen eher formalen Grund: Lügen ist erst einmal leicht; doch den Überblick über die eigenen Falschaussagen zu behalten ist schwer. Kommt die Freundin in dem hochgelobten Kleid zwei Monate später zu Besuch, kann es zu erheblicher Verwirrung führen, fällt man bei dieser Gelegenheit kritisch über das gute Stück her. Übler als das Durcheinander in solchen Fällen ist aber die eigene Befindlichkeit beim Schwindeln oder Lügen. Wer sich müht, die Wahrheit freundlich vorzubringen, wird sich immer besser fühlen als jemand, der regelmäßig die Vermischung von wirklich Gedachtem und tatsächlich Gesagtem innerlich bewältigen muss.
"Gibt er die Wahrheit preis, gibt er sich selber preis."
Zur eigenen Unruhe kommen die schwerwiegenden Konsequenzen, die das Lügen in der Beziehung zu anderen hat. Man wird nicht mehr ernst genommen, selbst wenn man aufrichtig ist man wird ganz einfach völlig unglaubwürdig. Natürlich ist es manchmal unbequem und sehr unangenehm, die Wahrheit zu sagen. Es macht schon Mühe, nach Worten zu suchen, die die Wahrheit transportieren, und zugleich achtsam mit anderen und sich selbst umzugehen. Der politische Romantiker Novalis aber hat über den Menschen gesagt: "Gibt er die Wahrheit preis, gibt er sich selber preis." Die Wahrheit muss heraus, auch wenn sie sehr schmerzhaft ist. Es ist ein Akt der Befreiung, sich der Wahrheit zu stellen. Jeder weiß dann, wie er mit dem anderen und mit sich selbst dran ist.