Behindert ist allenfalls unsere Wahrnehmung
Lena Uphoff
15.11.2010

Sie ist Optikerin - eine gute. Wenn ich ihr dabei zusehe, wie sie meine völlig aus der Form geratene Lesebrille doch noch mal zu reparieren versucht, kommt Andacht in mir auf und Demut. Wie sie schon die Brille anfasst, wie sie sachte, mit dem genau richtigen Maß von Kraft die Bügel biegt, das ist einfach gekonnt. Und mir wird bewusst, was ich nicht kann.

Die Faszination siegt. Ich muss hinsehen.

Dass sie an der rechten Hand nur drei Finger hat, ist mir zunächst nicht aufgefallen. Als ich es nach ein paar Minuten registriere, verfolge ich neugierig jede ihrer Bewegungen. Gleichzeitig beschleicht mich die Sorge, sie könne mein neugieriges Gegucke als obszön empfinden. Die Faszination siegt. Ich muss hinsehen.

Ein Daumen, normal entwickelt. Zwei große, kräftige Finger, keine Stümpfe für zwei weitere. Sie ist offensichtlich mit dieser rechten Hand geboren und Rechtshänderin. Drei perfekte Finger. Lang und schlank. Verstohlen betrachte ich meine eigenen fünf, die so viel weniger können als diese drei. Wenn "behindert" heißt, beeinträchtigt zu sein, dann bin ich es - sie ist es nicht.

Die junge Frau legt die Brille aus der Hand, greift zum Stift, notiert Maße und Stärke. Ihre Handschrift ist schwungvoll, die Buchstaben reihen sich in perfekter Linie auf das Papier. Der größtmögliche Gegensatz zu meiner Sauklaue, die kaum ein Lehrer entziffern konnte. Wie froh war ich, als ich nur noch mit der Schreibmaschine und später mit dem PC schreiben musste.

Sie hält inne. "Tja, Herr Brummer, die ist nicht mehr zu retten." Kein Zweifel meinerseits. Ich habe ihre Kunst gesehen. Sie hat alles versucht. Ich war Zeuge eines meisterhaften Tuns. Wenn sie es sagt, dann ist es so.

Ohne Lesebrille bin ich arbeitsunfähig. Und ich muss nachher ins Büro und meine Kolumne schreiben. Ohne Prothese geht das nicht. Kann sie mir irgendwie helfen? Sie überlegt, streicht sich mit zwei Fingern durch die Haare. Sie lächelt. "Ich glaube, ich habe noch eine Fassung hier, in die Ihre Gläser passen könnten."

Falsch?, zuckt es mir durchs Hirn.

Ich darf zusehen, wie sie die neue Fassung erwärmt, das rechte Glas und dann das linke hineinpresst. Wieder mit wohldosiertem Aufwand, mit der exakt notwendigen Mischung aus Fingerspitzengefühl und Gewalt. "Geschafft! " Gerettet. Ich bin begeistert. Und die neue Fassung für 25 Euro ist geradezu ein Schnäppchen. Ich fahre die Rechte aus, um erfreut die ihre zu schütteln. Falsch?, zuckt es mir durchs Hirn. Doch da hat die Optikerin längst ihre Hand in die meine gelegt. Ich spüre, wie schmal sie ist. Aber sie erwidert mein Zaudern, meine unsichere Berührung mit kräftigem Druck.

Vor zehn Jahren habe ich mit einem Einarmigen in New Orleans eine Runde Golf gespielt. Seine kraftvollen, langen Abschläge, sein gefühlvolles Einlochen auf dem Grün - ich hatte keine Chance. Der Mann verfügte über das Bewegungstalent eines Balletttänzers. Ob er sich je überlegt hat, was er erst mit zwei Armen im Sport erreicht haben würde?

Ich könnte jetzt von Django Reinhardt erzählen, dem genialen französischen Jazzer. Er hat in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Gitarrenspiel revolutioniert, mit einer linken Hand, an der nur Daumen und zwei Finger funktionierten. Oder vom tauben Beethoven, der die Neunte schrieb. Oder von den blinden Musikern Stevie Wonder und Ray Charles. Oder von den Stars der Paralympics. Es fallen einem viele Leute ein, deren große Gaben sie jeder Norm des Vollständigen spotten lassen. Das Spannende ist: Diese Könner begegnen einem nicht nur auf den großen Bühnen der Welt, sondern sind überall zu finden.

Wir mehr oder weniger Wahrnehmungsbehinderten müssen nur die Augen aufmachen, um sie zu sehen. Manche brauchen dazu eine ordentliche Brille. Es ist ganz hilfreich, wenn man dann einer wirklich guten Optikerin begegnet.

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